Montag, 15. Dezember 2008

Russische Literaten: Michail J. Saltykow-Schtschedrin

Hanns-Martin Wietek
Michail Jewgrafowitsch Saltykow–Schtschedrin
- Satiriker von Weltrang

Michail Jewgrafowitsch Saltykow-Schtschedrin (auch nur Saltykow oder Ssaltykow [DDR]; Transliteration Michail Evgrafovic Saltykov-Šcedrin) kam am 15.jul. / 27.greg. Januar 1826 in Spas-Ugol (Gouvernement Twer) zur Welt und verließ selbige am 28. Apriljul. / 10. Maigreg. Mai 1889 in St. Petersburg.

Der Satiriker
Satiriker sind – sofern sie sich nicht ausschließlich mit den „Dummheiten“ der Menschen beschäftigen – immer politisch; bei ihnen kann man noch viel weniger als bei anderen (russischen) Schriftstellern Literatur und Politik voneinander trennen. Der Zweck ihres Schreibens ist es, gesellschaftliche Veränderungen „herbei zu schreiben“.
Wie Juvenal, Rabelais, Swift, Heinrich Heine und Heinrich Mann und auch Gogol gehört Michail Saltykow zu den größten Satirikern der Weltliteratur. In der westlichen Welt allerdings hörte und hört man recht wenig von ihm, was damit zusammenhängt, dass er von der sozialistischen Literaturgeschichte weit über Gebühr vereinnahmt (er war Stalins Lieblingsautor und hat sich darob in seinem Sarg ganz sicher aufgearbeitet vor Wut) und uminterpretiert wurde, was im Westen leider „Berührungsängste“ geschürt hat und (unverständlicherweise) bis heute schürt. Gerhard Dudek ist z.B. einer der wenigen profunden Kenner von Saltykow-Schtschedrin, findet jedoch relativ wenig Beachtung, da er, obwohl hervorragender, kaum tendenziöser Literaturwissenschaftler, ein hochrangiger Kulturpolitiker in der DDR war. Auf westlicher Seite sind hier Annerose und Gottfried Kirchner zu nennen, die u.a. 1994 die Geschichte einer Stadt im Manesse Verlag herausgegeben haben.
Satiriker schreiben über aktuelle politische und gesellschaftliche Zustände, was – wenn man diese Umstände nicht kennt – das Erkennen und Genießen der Satire schwierig macht. Dem kann man jedoch durch gute, ideologiefreie (!), neutrale Kommentare abhelfen. So wird auch das weit über die aktuelle Situation hinaus Bleibende und literarisch Packende sichtbar; und es ist ein Genuss, Saltykow zu lesen und zu erkennen, von welcher Aktualität er auch heute noch ist.

Herkunft und erste literarische Werke
Michail Jewgrafowitsch Saltykow–Schtschedrin wurde als sechstes Kind einer Adelsfamilie auf dem Dorf geboren; seine Eltern waren Gutsbesitzer. Es war die Zeit des Autokraten Nikolaus I., strenge Leibeigenschaft war die Norm. Vor seiner Heirat mit einer reichen 15-jährigen Kaufmannstochter lebte Saltykows Vater in St. Petersburg bei verschiedenen hochgestellten Bekannten und war aufgrund seiner Fremdsprachenkenntnisse als Schriftsteller und Übersetzer pietistischer Schriften sowie nach seinem späten Eintritt ins Militär als Übersetzer und Herausgeber eines Werkes zur Militärarchitektur tätig. Er war er ein jovialer, gemütlicher Mann, von dem der Sohn wohl die Liebe zur Schriftstellerei geerbt hat. Saltykows Mutter hingegen war eine Frau von fast despotischem Charakter und praktischem Verstand, mit Geschäftssinn, Zielstrebigkeit und unerschöpflicher Tatkraft. Von ihr erbte er Geradheit, streng nüchternes Denken, Energie, Selbstständigkeit, Unabhängigkeit, den starken Willen und auch die Leidenschaft. Turgenjew, mit dem ihn – ebenso wie mit Nekrassow – eine lebenslange Freundschaft verband, charakterisierte Saltykow mit den Worten: „im Herzen gütig und empfindsam, äußerlich aber schroff“. Dem so empfindsamen Menschen mussten zwangsläufig die „ganz normalen Gräueltaten“ der Leibeigenschaft nahe gehen, doch auch an seine eigene Erziehung hatte er nicht die besten Erinnerungen:
„Wissen Sie, in welchem Moment mein Gedächtnis einsetzt? Ich entsinne mich, dass ich geschlagen werde (…) wie sich’s gehört, mit der Rute, und die deutsche Gouvernante meiner älteren Brüder und Schwestern tritt dazwischen, schützt mich mit ihrer Hand vor den Schlägen und sagt, ich sei noch zu klein dafür. Damals muss ich zwei Jahre gewesen sein, nicht älter…“
Als Zehnjähriger wurde Saltykow in das Moskauer Adelsinstitut aufgenommen und nach weiteren zwei Jahren in das Lyzeum Zarskoje Selo – die Nachwuchsschmiede und Zuchtanstalt für hohe Beamte, in der auch Puschkin erzogen worden war – abkommandiert; er selbst hätte lieber studiert. Im Lyzeum traf er im Jahr 1839 auf Petraschewski, der ihn mit den Ideen der Utopischen Sozialisten um Saint-Simon und Charles Fourier bekannt machte. Die Utopischen Sozialisten waren der Meinung, dass sich die Menschheit durch Einsicht auf demokratische Weise hin zu sozialer Harmonie und Gerechtigkeit entwickeln werde. Die hoffnungsfrohe Einstellung und der Optimismus der Utopischen Sozialisten entsprachen genau Saltykows Charakter und sollte ihn zeit seines Lebens nie vollständig verlassen.
Auch den vom demokratischen Sozialismus überzeugten „Literaturpapst“ Wissarion Belinski, der seine Vorstellungen ebenfalls prägte, traf Saltykow in seiner Zeit am Lyzeum.
Ab 1844 war Saltykow im Kriegsministerium in St. Petersburg verbeamtet, gleichzeitig aber dem Zirkel um Petraschewski verbunden. In dieser Zeit schrieb er, ganz von Gogol beeinflusst, der gerade seine Ausgewählten Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden herausgab, seine ersten beiden Erzählungen: “Protivorecija“ (1847, dt. Widersprüche) und “Zaputannoe delo“ (1848, dt. Eine verwickelte Sache); beide wurden in der Zeitschrift Vaterländische Annalen abgedruckt.
Die Revolution von 1848 in Europa steigerte Nikolaus‘ I. Angst vor einer Revolution im Land ins schier Unermessliche; der Kreis um Petraschewski wurde verhaftet, Dostojewski in den Kerker geworfen und verbannt und Saltykows schon erschienene Erzählungen erneut überprüft und nun als revolutionär eingestuft und verurteilt. Ihn traf die mildeste Form von Verbannung: Er wurde nach Wjatka im hohen Norden Russlands strafversetzt; dort hatte noch bis kurz zuvor Alexander Herzen in der Verbannung gelebt, der Russland zu diesem Zeitpunkt jedoch schon endgültig den Rücken gekehrt hatte. Erst 1855, nach dem Tod von Nikolaus I., wurde Saltykow begnadigt und schrieb kurz darauf die Gubernskie ocerki (1856f; dt. Skizzen aus dem Gouvernement), die in der liberalen Phase unter Alexander II. auch veröffentlicht werden konnten und ihn berühmt machten. Darin stellt er die Provinzbürokratie noch humorvoll bloß und zieht über den Landadel und die Adelsintelligenz her. Zu hören ist auch ein erleichtertes Aufatmen darüber, dass endlich der Despot Nikolaus I. tot war und der liberale Alexander II. Reformen und die Abschaffung der Leibeigenschaft einleitete. 1869 verarbeitete Saltykow seine „Skizzen“ zu der Satire Istorija odnogo goroda, die unter dem Titel Die Geschichte einer Stadt 1946 in Deutschland erschienen ist.
Trotz aller mittlerweile spürbaren Liberalität konnte Saltykow in diesem Werk – wie auch in allen anderen – natürlich keine realen Namen und Orte beschreiben, er benutzte stattdessen sehr anschauliche Kunstnamen; so heißt die Stadt – St. Petersburg – „Dumburg“, ein angrenzender Volksstamm sind „die Rumsköpfe“, Herrscher haben Namen wie „Bullenbeißer“, „Feste-druff“, „Tolpatsch“, „Warzenreich“, „Stumpf-Grunzig“ usw. Aus den Bewohnern von Archangelsk wurden die „Walroßesser“, aus den Nowgorodern die „Musschlucker“, die Menschen aus Wladimir waren „Moosbeersammler“, jene aus Rjasan „Schiefwänste“ und die aus Brjansk „Quatschnasen“. All dies sind Namen, die einen tatsächlichen Bezug haben; und die Taten der Beschriebenen spotten tatsächlich jeder Beschreibung. Das Wesentliche ist jedoch, dass die realen Personen hinter den Namen mit ein wenig Mühe zu erkennen sind, allerdings so, dass es der Zensur schwer fiel, es zu beweisen ... Weiterlesen im ZVABlog - Webseiten des Autors Hanns-Martin Wietek: Büchervielfraß

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