Mit den Bären im Wald - Das Leben einer Korjakin aus Mittel-Kamtschatka im russischen Fernen Osten
Dokumentation, Frauenfeld 2007, Gedächtnis der Völker, Broschur. 176 S., ISBN 978-3-03740-365-5, (EUR) 22.00, (SFR) 33.00
Die junge Ethnologin Katharina Gernet ist fasziniert, als sie auf einer Forschungsreise auf der russischen Halbinsel Kamtschatka mitten im Wald und Tagesmärsche von den nächsten Siedlungen entfernt eine Jurte und ein Holzhäuschen mit Gemüsebeeten entdeckt, die von einer kleinen alten Frau bewohnt und bewirtschaftet werden, die dort seit Jahrzehnten allein und offenbar in stiller Zufriedenheit ihr Auskommen findet. Nach und nach erfährt die Ethnologin die Lebensgeschichte der alten Frau, die ihr schließlich sogar ihre Tagebücher anvertraut. Diese Dokumente eines von unermüdlicher Arbeit, Bescheidenheit und Willenskraft geprägten Lebens in der rauen Natur des russischen Fernen Ostens wurden für dieses Buch erstmals ins Deutsche übersetzt und durch viele Hintergrundinformationen, Fotos und Karten anschaulich gemacht.
Großmutter Alla, 1936 geboren, wurde im Sowjetstaat zum nützlichen Mitglied der Kolchose erzogen. Ihre Familie, die dem Volksstamm der Korjaken angehört, musste zwei Zwangsumsiedelungen an «weniger abgelegene» Orte über sich ergehen lassen. Erst als Erwachsene lernt Alla durch ihren Mann, einen ewenischen Jäger, das Leben im Wald kennen. Das Paar bezieht ein Jagdquartier inmitten der Wildnis. Trotz aller Entbehrungen und Gefahren, die die schneereichen, einsamen Winter mit sich bringen, kann sich Alla nach dem frühen Tod ihres Mannes und dem Heranwachsen des Sohnes kein anderes, bequemeres Leben mehr vorstellen. Zusammen mit ihren Hunden bleibt sie als Fallenstellerin, Fischerin und Jägerin in der Jurte am Schanutsch-Fluss. Freundschaft und Respekt verbinden Alla mit den Lebewesen des Waldes – Stechmücken ausgenommen, wie die seltenen Klagen in ihrem Tagebuch bezeugen. Ihre Notizen, in denen sie zunächst nur ihre Fang- und Jagderfolge verbucht, wachsen sich mit den Jahren zu einem persönlichen Lebensbericht aus, in dem sie ihre Freuden, ihre Sorgen und vor allem unzählige Naturbeobachtungen festhält.
Regen Anteil nimmt sie am Familienleben ihrer unmittelbaren Nachbarn – aus gebührendem Abstand allerdings, denn es handelt sich um eine Familie von Bären.
Buchauszug:
Epilog: Das Verlangen, das hinter dem Wunsch steckt, das Leben anderer Menschen kennenzulernen, bewegt sich zwischen unterschiedlichen Empfindungen, zwischen Faszination, Bewunderung, Anteilnahme oder Erstaunen. Es hat wohl auch etwas mit dem Vergnügen am Reisen zu tun, denn der Blick in ein fremdes Leben ist wie ein Schritt in eine andere Welt. Reisen wiederum bedeutet Abenteuer, Überraschungen, Unbekanntes, Grenzen, die sich Öffnen. Man entscheidet aber nicht unbedingt selbst, wie weit man in die andere Welt vordringt, ist angewiesen auf das Entgegenkommen des Gegenübers.
Datierbare, punktuelle Ereignisse helfen, sich in der anderen Welt zuerst einmal zurechtzufinden. Sie verleihen dem Lebenslauf eines Menschen das Gerüst und die Konturen. Zu einer Lebenslandschaft mit Hohen und Tiefen, mit Wendepunkten und auch Sackgassen wird das Bild allerdings erst durch die gewöhnlichen Abläufe zwischen den markanten Vorkommnissen. Dichte erhält es mithin durch den Alltag. Um diese Zwischenräume kennenzulernen und zu begreifen, ist Zeit notwendig und Geduld. Wie viel Zeit und wie viel Geduld — das bestimmt der andere.
In der Skizze, die hier zum Porträt eines Frauenlebens im fernen Nordosten Russlands zusammengefügt wurde, sollte nicht die äußerliche Exotik dieses Lebens, sondern dessen alltägliche Gewohnheiten, kleine Freuden und das Zurechtkommen mit Hindernissen, Ängsten und Ärgerlichkeiten im Vordergrund stehen. Seit ihr Mann gestorben war, prägten Einsamkeit und Gleichmaß die Tage von Alla Nutankowna. Einfachheit und Wiederholung sind auch die Hauptmerkmale ihrer Aufzeichnungen. Indem wir uns darauf einlassen, bekommen wir eine Ahnung vom Rhythmus des Alltags im Wald.
Im Kleinen Prinzen sagt das Füchslein: "Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast." Das Vertrauen, das man uns entgegenbringt, schafft eine Verbindung, aus der wir uns nicht einfach entziehen können. An einem bestimmten Punkt der Reise in ein fremdes Leben fangen wir an, uns verantwortlich für unser Gegenüber zu fühlen, dessen Empfindungen und Anschauungen bezüglich sich selbst und der Welt wir erkunden. Wir haben die Pflicht, mit dem Erfahrenen so umzugehen, dass wir dem Ansehen des anderen in den Augen Dritter nicht etwa schaden, sondern vielmehr Verständnis für ihn gewinnen.
Es muss natürlich gesagt werden, dass die Wiedergaben von Lebensläufen niemals objektive Darstellungen sind. Indem die Erzähler "beschönigen" oder "korrigieren", Details ausklammern oder hinzufügen, den Blick auf besondere Momente richten und andere Momente dabei in den Schatten treten lassen, konstruieren, gestalten und produzieren sie Geschichten. Das heißt aber nicht notwendig, dass sie betrügen oder täuschen. Nur sprechen sie auf eine persönliche Weise, aus ihrer eigenen Sicht der Dinge, aus ihren Vorstellungen über "das Gute" und "das Schlechte" und den Erzählgewohnheiten ihrer Kulturen heraus. Auch dieses Buch gibt nicht die Wahrheit wieder. Es ist eine Mischung von verschiedenen Perspektiven und das Ergebnis einer Wahl aus vielen möglichen Darstellungsformen.
Ich wünsche mir, dass die Leser, wenn sie dieses Buch schließlich aus der Hand legen, an Alla Nutankowna als an eine tapfere, heitere Frau denken, die im Laufe ihres Lebens manchen Kummer erfahren musste, die sich aber doch kein anderes Dasein als das eigene vorstellen wollte. Hätten nicht ihre Tagebuchaufzeichnungen zur Verfügung gestanden, wäre es schwierig geworden, dies zu vermitteln. So aber sollten vor allem ihre eigenen Texte sprechen.
Katharina Gernet: 1967 in München geboren. Ethnologin am Max-Planck-Institut für Ethnologische Forschung in Halle/Saale. Studierte Slawistik, Anglistik und Ethnologie in München, Wolgograd und Leiden. Seit 1994 fast jährlich Forschungsaufenthalte in Sibirien und auf Kamtschatka, z. T. über viele Monate hinweg.
Katharina Gernet leitet den gemeinnützigen Verein zur Unterstützung der indigenen Bevölkerung Sibiriens "Pro Sibiria e.V."
Bisherige und laufende Projekte des Vereins: Schulspeisung im Dorf Esso, Zentral-Kamtschatka - Handarbeitswerkstatt im Dorf Anawgai, Zentral-Kamtschatka: eine Fraueninitiative zu wirtschaftlicher Eigenständigkeit und zur Bewahrung des traditionellen Handwerks - Gemüsefeld und Treibhaus für die Grundschule im Dorf Esso - Langlaufski für Jugendliche im Dorf Esso - Sponsoring für einen jungen ewenischen Schlittenhundeführer aus dem Dorf Esso - Schule auf Kufen für Rentier-Nomaden ... Mehr auf prosibiria.de
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