Sonntag, 5. Juli 2009

Jostein Sæther: Einstimmen aufs Karma - Impressionen aus Russland

Jostein Sæther
Impressionen aus Russland

„Ihr Lichtes-Geister
lasset vom Osten befeuern,
was durch den Westen sich formet“

Dieser Sentenz im Titel, entnommen der Grundsteinmeditation von Rudolf Steiner, kommt mir in den Sinn, wenn ich versuche, die Eindrücke während meiner ersten Russlandreise zu formulieren. Vorher dachte ich, dass Russland ein Teil von Europa sei, was er teilweise wahrlich auch geographisch ist. Dennoch sprachen meine neuen russischen Freunde in Moskau andauernd von Europa als etwas auswärts und vom Westen, wenn ich von Begebenheiten in Skandinavien, Deutschland und Mitteleuropa referierte, und wenn es um ihre Perspektive ging. Wenn ich nun bauend nur auf meinen Sinnes- und Seelenseindrücken eine Charakteristik versuche, sind sie so eigen und anders gegenüber allem, was ich vorher kannte, dass ich zum Teil nur berichten kann wie von etwas „Fremdem“. Dieses Wort nehme ich sehr ungern in Gebrauch. Es war für mich quasi ein Fremdwort bis ich 1998 nach Deutschland auszog und dann in fast jedem Dorf Schilder mit dem Text „Fremdenzimmer“ sah.

Meine Vorkenntnisse über Russland
Die Kenntnisse von Russland, von russischer Kultur und Geschichte, die ich bereits hatte, war nie gering. In den 1960er Jahren war ich einen leidenschaftlichen Ausübender und Kenner der Eisschnelllaufsport, und ich verpasste keine internationalen Meisterschaften durch Rundfunk und Fernseher, sondern schrieb während vieler Jahre alle Resultate in meinen Zeitlisten auf. Ich hatte große Sympathien z. B. für Ants Antson, den ehemaligen estnischen Eisschnellläufer, der bei den Olympischen Winterspielen 1964 in Innsbruck für die damalige Sowjetunion die Goldmedaille über 1.500 m gewann. In demselben Jahr wurde er auch Mehrkampf-Europameister.

Alle Filme der sowjetischer Filmregisseur Andrei Tarkowski sah ich mit Vorliebe - einige davon, z. B. Solaris, Stalker und Opfer sogar mehrmals - und im Letztgenannten, der teils in Stockholm 1985 gedreht wurde, spielte ich sogar als Statist mit. Ich sah mit eigenen Augen den weltbekannten Filmemacher oben auf der Drehbühne, wie er mehrmals genau angab die Szene mit den etwa 400 Mitspielern. Während dieser Jahre las ich sein Buch Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films, das mich dazu bewegte, ein Kurs zum Thema Drehbuchschreiben zu absolvieren. Mein damaliger Wunsch, ein Bühnenbild- und Regiestudium anzutreten, konnte aber nicht verwirklicht, da ich keinen Platz an der Hochschule Dramatiska Institutet in Stockholm bekam.

Viele russischen Autoren wie Tschingis Ajtmatow, Andrej Belyj, Andrej Sacharow und Alexander Solschenizyn und Dichter wie Alexander Blok und Ossip Mandelstam habe ich mit Fleiß gelesen, und ich schätze die Kunst vieler russischer Maler wie Marc Chagall, Alexej von Jawlensky, Wassily Kandinsky, Kasimir Malewitsch, Ilja Repin, Nicholas Roerich und Marianne von Werefkin. Während meiner nicht zu Ende gebrachte Geschichtsstudium Mitte der 1990er Jahre beschäftigte ich mich mit Nikolai Berdjajew und gebar die Idee, seine Geschichtsphilosophie der „geschichtlichen Symptomatologie“ von Rudolf Steiner gegenüberzustellen. Auch unter den klassischen russischen Anthroposophen wie Maximilian Woloschin und Margarita Woloschina war ich soweit gewandert, dass ich 1988 einen Vortrag darüber hielt auf einer Russland-Tagung in Järna, wo der norwegische Russlandkenner Peter Normann Waage Hauptsprecher war. Damals fing ich an, sogar autodidaktisch Russisch zu lernen, mit welchem ich aber wegen der neuen Aufgaben mit meiner ersten Vaterschaft aufhörte.

Besonders seit dem Auftauchen von Glasnost und Perestrojka durch Michail Gorbatschow ab Mitte der 1980er Jahre verfolge ich die politischen und sozialen Entwicklungen in Russland und in einigen ehemaligen Sowjet-Staaten wie die baltischen, die Ukraine und Georgien. Das tragische Schicksal vom Anthroposophen und Georgiens erster Präsident nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1991, Swiad Gamsachurdia, bewegte mich sehr, als darüber mehrfach berichtet wurde in einer schwedischen anthroposophischen Zeitschrift.

Ich lernte vor Jahren einige russisch sprechenden Anthroposophen persönlich kennen, die kommen u. a. aus Georgien, woher ich auch eine „beständige“ Einladung gekriegt habe, um künftig dort meine Methode der Karmaarbeit zu präsentieren. Weil die globale Finanzkrise auf diese ehemaligen kommunistischen Länder stärker als auf den Westen einschlägt, muss aber die Finanzierung solcher Touren für sich und hier organisiert werden. Trotz im Grunde umfassenden Vorkenntnisse erstaunten, überraschten und bestürzten mich nun die Eindrücke in russischen Städten und Dörfern, in Moskau und in Waldai während der mühsamen Autofahrt nach Moissejevitchi.

Ein russisches Rücksichtnehmen existiert nicht
Schon die Vorbereitungen zur Reise mit der Erwerbungen der russischen Einladung, der Reiseversicherung, der Freizügigkeitsbescheinigung der deutschen Ausländerbehörde und der Auftragserteilung für die Visumzentrale in Bonn, um das russische Visum zu kriegen, waren für einen erfahrenen Auslandfahrer wie mich umständlich und zeitaufwendig. Die Ein- und Ausreisebedingungen auf russischem Boden scheinen die Besserungen seit der Wende nicht so sehr befolgt zu haben, dieweil man mehrere Sperren, Durchleuchtungen und Passkontrolle ertragen muss. Ich kam von heißem Frühlingsbrodem in Saarland mit Sommerkleidern zum Moskauer Spätwinter an. Glücklicherweise hatte ich wie immer beschränkt aber fachgemäß meinen Koffer gepackt und konnte die Nullgrad und die kommenden Nächte mit bis sieben Minusgrad gut mit Wollunterkleidern, Pullover und Windjacke ausharren.

Ich bin geflogen von Flughafen Köln-Bonn mit Germanwings nach Moskau-Vnukovo - früher der interne Airport für Parteimitglieder, der auch noch als Vnukovo 1 VIP existiert, ist heute ein von mehreren internationalen Flugplätzen Moskaus -, das im Südwesten der Zehnmillionenmetropole liegt. Die 10 470 318 Einwohner (Stand 2008) sind nur die offiziell gemeldeten Bürger, aber in Russland meldet man sich ja auch nicht unbedingt an, weil es nicht ohne weiteres geht. Massenweise Bürger sind „zufälligerweise“ nicht in Moskau gemeldet, also nicht geschätzt und bei diesen 10,5 Millionen deswegen auch nicht mit berücksichtigt. Sie dürfen da eigentlich nicht wohnen und sind nicht gemeldet, weil sie dazu „nicht berechtigt“ sind, wie es in Russland heißt. Sie sind also sozusagen „Gastarbeiter“. Es leben nun in Moskau schätzungsweise etwa 15 Millionen Menschen, wahrscheinlich auch mehr.

Dieses Hintergrundwissen erzählte mir Anna Gussinskaia, die Gründerin und Geschäftsführerin des anthroposophischen Unternehmens Naturalia, die mich zu diesem ersten Russlandbesuch einlud und am Flughafen auf mich wartete. Sie war in erster Ehe mit einem deutschen Ambassadeangestellten verheiratet, und sie arbeitete etwa 8 Jahre mit deutschem Sprachunterricht am Goetheinstitut in Moskau. Seit mehreren Jahren dolmetscht sie auch für Russen bei Ärzte-Tagungen am Goetheanum, und sie hat viele Geschäftspartner in Mitteleuropa gefunden, deren naturgemäße Produkte durch den Laden Naturalia in Moskau verkauft werden. Mit ihrem nahezu akzentfreien Deutsch begleitete sie mich während dieser eindrucksvollen 12 Tage in privaten Gesprächen, bei Seminarien und Vorträgen. Auch ihr älteste Sohn, Nikolai, der fließend Deutsch spricht und seit kürzlich eine große Interesse für die Anthroposophie hat, half mir, in das russische Element einzudringen. Ganz wenige Russen, die ich kennen lerne, können überhaupt etwas Deutsch, einige wenige sprechen aber ein verstehbares Englisch.

Am Vnukovo und bei der Autofahrt Richtung Moskau zur Wohnung von Anna und ihrer Familie, die unweit von der Lomomossow-Universität am Prospekt Wemadskovo sich befindet, bemerkte ich viele Phänomene, die anders sind als hier im Westen - jetzt versuche ich mich mit dieser russischen Bezeichnung anzuvertrauen. Russland folgt auch die Wiener Straßenverkehrskonvention und somit herrschen hier dieselben Verkehrsregeln wie bei uns, aber sie werden anders und irgendwie lokal interpretiert oder oft nicht berücksichtigt, weil man beim strikten Regelhalten die Sicherheit gefährden könnte, da z. B. einige Ampel in großen Kreuzungen defekt funktionieren.

Anna erklärte mir auf: „Das Wort ‚Rücksicht’ kann man bei uns nur schwer und mit einem ganzen Satz wiedergeben, und der Begriff Rücksichtnehmen gibt es im russischen Vokabular nicht und geschweige denn die entsprechende Tugend. Es ist sehr gefährlich auf russischen Straßen und Wegen. Man muss andauernd wach sein und gucken, was die anderen Fahrer wollen und tun, um nicht selbst bedrängt oder angeprallt zu werden.“ Ich verstand bald was sie meinte, weil wir einmal in einem Stau kamen, der dadurch verursacht war, was wir nächst erfuhren, dass drei Autos ineinander gekracht waren auf dem mit drei bis vier Fahrstreifen ausgerichteten, aber schlecht markierten und, was der Fahrbahnbefestigung angeht, durchlöcherten Autobahn.

Das ganze Verkehrssystem ist von den zahlreichen Autos sehr geprägt. Es wimmelte von neuen europäischen, amerikanischen, japanischen und alten russischen Modellen. Wenn die deutsche Abwrackprämie für Russland ausgeweitet werden würde, würden Millionen russische Autobesitzer ihren nicht nur 9-jährigen sondern bis zu 40-jährigen Autos abwracken lassen können. Dies wäre für Frank-Walter Steinmeier vielleicht zu überlegen, ehe und falls er die kommende deutsche Regierung im Herbst antreten werde! Besonders die vielen alten Kleinlastwagen und die kommunalen oder privaten Omnibusse fielen mit ihrem Rost und stinkigen Abgasen auf. Überall in Moskau reizte es mir in der Nase wegen der Atmosphäre durchdringenden Autoemission, die ich in dieser Art nicht mehr erlebt habe, seitdem ich 1983 in der DDR zu einem einmaligen und spannenden Besuch war. In Kontrast zu diesem Überbleibsel des 20. Jahrhundert rasten die Neureichen in ihren mit verdunkelten Scheiben bestückten Kfzs wie bepanzerte Inkognitos vorbei - für jeden eine Verkehrsfalle, besonders bei den Fußgängerstreifen -, da man mit ihnen keinen Augenkontakt haben kann, was für die normalen Pkw-Fahrer ein Gebot ist, weil man ja das Einhalten der Verkehrsregel nie voraussetzen kann.

Nie habe ich so viele Polizeivollzugsbeamten gesehen, die beim kleinsten Versehen mit ihren Stöcken die Fahrer einwinkten, um Verwarnungsgeld einzukassieren. Es heißt, dass sie das Geld oft in die eigene Tasche verschwinden lassen, weil sie einen solch niedrigen Lohn haben, und deshalb so arbeitsam sind. Die Streifenwagen der Miliz für öffentliche Sicherheit - der offizielle Name für die Polizei in Russland - waren überall an der Hauptverkehrsstrasse - die mit „Autobahn“ bezeichnet wirt, aber keine ist - zwischen Moskau und St. Petersburg und besonders oft direkt nach der Grenze zu der nächsten Region nordwestlich von Moskau - genannt Oblast Twer - zu sehen. Oblast (deutsch wörtlich „Gebiet“) ist die Bezeichnung für einen größeren Verwaltungsbezirk.

„Die Verkehrspolizisten - verkürzt DPS (Doroshno-patruljmaja slushba) - werden immer noch, wie zu der Sowjetzeit, nach der alten Manier ‚gaischniki’ (Plural), ‚gaischnik’ (Singular) genannt, das Wort klebt an ihnen seitdem wie eine Brandmarke. Früher hieß es ja GAI (Staatliche Autoinspektion an Straßen). Es werden über sie massenweise und gerne Witze erzählt, wie etwa in Deutschland über die Ostfriesen, sogar mehr. Sie gelten als geldgierig und blöd“, berichtete Anna. Einmal als sie nicht aufmerksam genug war und dort wo 70 angesagt ist, mit nur 2 Stundenkilometer zu schnell fuhr, wurden wir sofort angehalten, und sie musste, trotz der freundlichen Gespräch mit dem jungen Beamten den festgesetzten Betrag nachkommend per Anzahlung begleichen.

Weiß bemalte Baumstämme
Der Frühling dieses Jahres schien zwei bis drei Wochen später als in Mitteleuropa zu sein. Zuerst in den letzten Tagen ließen die Knospen der vielen Birken und Laubbäume einen leisen grünen Lichtschein über die Gärten, Parks und Wälder ahnen. In Moskau sind die meisten Bäume in den bepflanzen Räumlichkeiten zwischen den Hochhäusern und in den Parks vom Boden bis anderthalbem Meter hoch mit vermutlich einer Kalkfarbe Weiß angestrichen. Auf meiner Frage, warum, wusste Anna nicht Bescheid. „Es war immer so seit meiner Kindheit, und keiner fragt warum, und es wird halt weiter gemacht“, sagte sie. Lena - eine Naturalia-Mitarbeiterin - erzählte später dazu, dass in ihrem Dorf dies bei den Fruchtbäumen im Frühling immer gemacht wird, weil Kalk das Hochklettern gewisser Art Schädlinge verhindert. „Aber das macht eigentlich nur bei den Fruchtbäumen einen Sinn“, fügte Anna hinzu. Als ich meine Ehefrau darüber berichtete, erzählte sie, dass es auch in den USA einen solchen Brauch gibt, um die Bäume in den Kälteschwankungen zu schützen, weil sie sonst in der Rinde zersprengen würden. Jedenfalls sah es in meinen Augen nicht schön aus.

Ich wohne in einem saarländischen Dorf, der auf Landes- und Bundesebene mehrmals für seine Schönheit ausgezeichnet worden ist. Die Stadtteile, die Wohnsiedlungen und die Dörfer, die ich in Russland erlebte, würden mit Sicherheit zuunterst in solchen ästhetischen Wettbewerben landen. Es fehlen manchmal Bürgersteige oder sie sind durchlöchert und abgebröckelt, oder man kann sie nicht benutzen, weil sie als Parkplätze ganz okkupiert sind. Dennoch wurde überall gereinigt und gefegt. Das aus südöstlichen oder kaukasischen, ehemaligen Sowjetstaaten stammende oder eingewanderte Reinigungspersonal war sehr fleißig, und sie benutzten sogar Heckenbesen, die ich bei uns nicht mehr gesehen habe seit meiner Kindheit. Und überall in Moskau waren solche öffentliche Arbeitskräfte damit beschäftigt, die Sockel der Häuser und die metallenen Brücken mit neuer Farbe zu streichen.

Die überalterte und rostige, metallene Eingangstür zum achtgeschossigen Haus - Annas Familie wohnt in der obersten Etage - schien mir, wie zu einem Schrotthändler zu führen. In Kontrast dazu gab es ein modernes mit Tastkombination versehenes elektronisches Schloss, das jedoch manchmal abends abgeschaltet war, ohne, dass die Einwohner dafür den Grund erkannten. Ein Nachbar, der gerade kam, als Anna einmal abends ratlos mit dem Hund da stand, sagte zu ihr: „Anhauchen soll man das Ding!“ Anna: „Wie bitte?“ Er: „Anhauchen, darauf atmen, ein Paar mal. Nano-Technologie!“ Anna konstatierte: „Und das funktioniert wirklich!!!“ Das Gerümpel, die herumstehenden Pappkartons im Treppenhaus und der als Schrott aussehende Aufzug, der bei uns nicht mehr zugelassen werden würde, ließ mich etwas von der Kehrseite der Kommunismus ahnen. Desto mehr überraschte mich dann die persönliche Atmosphäre des großen Zuhauses, die Gepflegtheit der vielen Blumen, die bilderreiche Räumlichkeit und die Modernität der Möbel als ich Annas Wohnung betrat.

Das Wohlwollen des Dackels ließ sofort die Ahnung entstehen von der hier wohl immerwährend gelebten Gastfreundlichkeit. In den kommenden Tagen bestätigte sich dies durch die Art, wie die Freunde der Familie und die Teilnehmer des Seminars an die gemeinsamen Aufgaben um die Speisen und die allgemeine Gemütlichkeit sich beteiligten. Die Gefühle und das Mitmachenwollen, das ich selbst spürte, ließen ahnen, dass ich zu richtiger Zeit auf dem richtigen Ort angekommen war mit der angemessenen Pflege der Karmaidee. Die bildhafte Art des Übens, das ich vermittelte, und die Offenheit für das Imaginative, das die Russen besitzen, begegneten sich in einer sehr konzentrierten und außergewöhnlich fruchtbaren Arbeit während der zwölf Tage.

Andrej Belyjs Geburtshaus
Schon am ersten Nachmittag und am Abend nach meiner Ankunft machten wir ein Sightseeing zur Moskauer Innenstadt. Wir fuhren mit Auto hin, was mich noch mal bestätigte in der Auffassung, dass ich mehrfach gestorben wäre, falls ich am Steuer gesessen hätte. Anna zeigte mir die von Josef Stalin errichteten neoklassischen Wohntürme, wo sie als Kind gewohnt hatte, und die schlichten Hochhäuser, wo sie später im Leben wohnte. Da der eine ihrer Großväter einen hohen Militär gewesen, der lange in Georgien stationiert war, wo Anna viele schöne Erlebnisse als Kind bekam, hatten sie während der Sowjetzeit die Möglichkeit zu einer zentralen Wohnlage mit herrlichem Aussicht direkt auf das Gebiet des Kreml. Wir machten zuerst eine Runde an einige bekannten Prospekts (Avenuen), dann fanden wir einen Parkplatz und machten einen Spaziergang, um einige alte Gebäude und schöne Architektur zu besichtigen.

An der zentralen und einzigen Fußgängerzone, der Straße Arbat, steht das Geburthaus von Andrej Belyj (eigentlich Boris Nikolajewitsch Bugajew, 1880-1934), wo er laut der an der Außenwand befindlichen Gedenktafel bis 1905 auch wohnte. In dieser Teil der Stadt sind die Häuser gepflegt und meisten gut restauriert - so auch das gelbe Belyj-Haus. Von 1899 bis 1903 studierte Belyj - sein Künstlername bedeutet „der Weiße“ - an der naturwissenschaftlichen Abteilung der physikalisch-mathematischen Fakultät der Moskauer Universität. Nach Abschluss nahm er ein Studium an der historisch-philologischen Fakultät auf, das er bereits nach einem Jahr abbrach, um sich der Literatur ganz zu widmen. Der junge Belyj war beeinflusst unter anderem vom Buddhismus und von den Philosophen Immanuel Kant, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche und Wladimir Solowjow. Von 1903 bis zu dessen Tod 1921 war er mit Alexander Blok befreundet. Ab 1904 arbeitete er an der theoretischen Begründung des literarischen Symbolismus.

Von 1912 bis 1916 beschäftigte sich Belyj intensiv mit der Anthroposophie Rudolf Steiners, dessen persönlicher Schüler er wurde, und er arbeitete an der Errichtung des ersten Goetheanums mit. Das künstlerische Motiv am „Knotenpunkt“ im Architrav, wo die beiden Kuppeln sich über dem Bühnenrand begegnen, entstand unter seiner Hand. Aus diesem Umstand lässt sich ein karmisches Licht auf die Individualität Andrej Belyjs werfen. Sie könnte verstanden werden als jemand, der Brücken bildet zwischen Persönlichem und Öffentlichem, zwischen Innenraum und Außenraum, zwischen Esoterik und Exoterik. In den zwanziger Jahren wandte Belyj sich zeitweise wieder von Steiner ab, so meinen die Literaturhistoriker, und kritisierte etwa die „Verquickung von falscher Esoterik und von Vereinsmeierei“ in der Anthroposophischen Gesellschaft. Sein Buch Verwandeln des Lebens. Erinnerungen an Rudolf Steiner las ich schon in der 1970er Jahren, als es auf Deutsch erschien. In diesen Tagen in Russland fühlte ich mich nun zum ersten Mal bereit, etwas über meine karmische Begegnung mit ihm in einem früheren Leben zu sprechen ...

" ... wir wollen unsere neun Leben haben ... “
Sich einstimmen auf das Karma bedeutet gleichsam überall wo man sich befindet, die Eigenheiten der unmittelbaren menschlichen Situation zu beachten. „Wir wollen weiter blicken als bis zum Fenster auf der anderen Straßenseite. Wir wollen leben, wir wollen unsere neun Leben haben. Und wir sind hier, um unsere Rechte zu beanspruchen, ja! Kannst Du das Rascheln unserer Mäntel hören - wir sind da! Von jetzt an werden wir handeln!“ Dieses Zeugnis Wiktor Zois, dessen Übersetzung ich im Internet fand, kann ich für die Karmaarbeit in Russland übernehmen. (Beim Korrigieren entdeckte Anna übrigens, dass eine Ungenauigkeit bei der Übersetzung hier vorliegt - eigentlich heißt es bei Zoi: „Wir wollen leben, wir sind so zäh, wie die Katzen, man kann uns nicht so leicht erledigen“. Da ich den Gedanken mit den „neu Leben“ schon aufgegriffen hatte, bin ich bei dieser Variante geblieben.) Sowie die Katze neun Leben zugesprochen wird, und falls aus dem Fenster geworfen, weil man kein Fisch mehr für sie hat und vielleicht für sich und seine Familie inklusive die Omi auch nicht, wird sie aber auf ihren vier Füßen intakt auf dem schneebedeckten Boden landen.

Wie viele Leben hat die russische Seele verbraucht im Laufe ihrer Leidensgeschichte? Wie viele Leben hat der Zarismus aus ihr geraubt? Wie viele der sowjetische Kommunismus? Hat sie überhaupt ein Leben noch übrig? Wiktor Zoi starb auf der Straße einen typischen „russischen“ Tod, aber er lebt! Auf dem Arbat haben wir nicht nur das Belyj-Haus, wie früher geschildert, sondern auch gesehen die sogenannte Zoi-Mauer, die in eine Seitengasse führte, die mit Graffitis dicht übereinander bedeckt war, und an der viele Blumen und Kerzen lagen. Und mehrere Jugendliche standen daneben. Diese Mauer gibt es dort seit Zois Tod, also seit gut 19 Jahren. Nikolai, der mich an dem Tag durch Moskau begleitete, wurde am 3. August 1990 geboren. Etwa zwei Wochen später, am 15. August starb Wiktor Zoi. Daran kann Anna sich sehr gut erinnern, an diesen Tag. Anna fügte hinzu: „Trotzdem wurde er zu Nikolais Lieblings-Popsänger, Arkadijs auch. Das ist für mich erstaunlich, er war ja mein Zeitgenosse. Er ist auch der einzige Popmusiker, der mich interessierte und den ich richtig mochte.“

Die russische Seele lebt ebenfalls, und sie hat mich mit liebevoller Wucht in ihre grandiose Obhut eingeheimst! Ich spürte was die russischen Menschenseelen unmittelbar brauchen: Sie brauchen Erkenntnisse über ihre mindestens acht früheren Leben! Auch wenn sie keine russische, sondern möglicherweise amerikanische, norwegische, deutsche, afrikanische, japanische, islamische, katholische oder Inkarnationen der Katharer waren ...


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