Der unbekannte Solschenizyn
Wie leicht ist mir, mit Dir zu leben, o Herr!
Wie leicht ist mir, an Dich zu glauben!
Wenn mein Verstand sich dem Zweifel öffnet oder kraftlos wird,
wenn die Klügsten unter den Klugen
nicht über den heutigen Abend hinaussehen
und nicht wissen, was morgen getan werden muss –
gibst Du mir Klarheit und Zuversicht,
dass es Dich gibt
und dass Du Sorge tragen wirst,
dass nicht alle Wege des Guten verschlossen sein werden.
Auf der Höhe meines irdischen Ruhmes
blicke ich mit Verwunderung zurück, auf jenen Weg
durch die Hoffnungslosigkeit – hierher,
von wo aus auch ich der Menschheit
einen Abglanz Deiner Strahlen schicken konnte.
Und wie viel Zeit auch nötig sein wird,
um Deine Strahlen widerzuspiegeln,
Du wirst sie mir geben.
Und was ich nicht mehr schaffen werde, heißt –
dass Du es Anderen vorbestimmt hast.
Gebet von Alexander Solschenizyn, entstanden zwischen 1958 und 1963. [zitiert nach: Alexander Solschenizyn, Was geschieht mit der Seele in der Nacht. Kurzerzählungen. Herbig, 2006]
Wer den Namen Alexander Solschenizyn hört, dem fällt sofort Archipel GULAG ein, dann Krebsstation und Im ersten Kreis der Hölle; wer mehr weiß, denkt sicher noch an Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch. Alle haben den gegen den Kommunismus kämpfenden, großartigen Schriftsteller vor Augen, der vom Sowjetregime aus dem Land gejagt wurde. Belesenere wissen um den Nobelpreis, wissen, dass Solschenizyn selbst im Lager war, und haben in seinen jüngeren Werken gelesen, dass er auch dem Westen kritisch gegenüberstand. Politisch Engagierte sehen mit großer Zustimmung seinen unerschütterlichen Kampf gegen die stalinistische Diktatur und den Kommunismus, sind jedoch befremdet, dass der Feind des Sowjetregimes ein (wenn auch kritischer) Fürsprecher Russlands (vermeintlich: geworden!) ist. Kurzsichtige schimpfen ihn einen erzkonservativen Nationalisten und Prediger russischer Großmachtpolitik.
Es ist nun, nach seinem Tode, Zeit, zur Ruhe zu kommen und jenseits der tagespolitischen Aktualität über den Menschen Solschenizyn nachzudenken, nachzudenken über das, was im Eifer des Gefechts vielleicht untergegangen ist, zu sortieren, was tagespolitische Emotionalität und was die Triebfeder seines Handelns war und was bleiben wird. Und wer könnte besser Auskunft geben über seine Grundüberzeugungen, sein Handeln und die Maximen seines Lebens, als er selbst? Daher soll hier – so paradox es nach seinem Tod auch klingen mag – Solschenizyn selbst zu Wort kommen.
Außer Frage steht, dass Solschenizyn einer der größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts war; und er war ein russischer Schriftsteller, was bedeutet, dass er, wie alle russischen Schriftsteller vor ihm, die Aufgabe des Schriftstellers darin sah, als Gewissen der Gesellschaft zu agieren. Deutlich wird dieser Anspruch im nachfolgenden Auszug aus einem von Pavel Licko verfassten Bericht, der 1967 in der slowakischen Literaturzeitung Kultúrny Život erschien:
[Solschenizyn: ] Dank der Tatsache, dass er die Welt durch das Auge des Künstlers sieht, und dank seiner Intuition enthüllen sich manche der sozialen Erscheinungen durch den Schriftsteller früher und von einer unerwarteten Seite. Darin besteht sein Talent. Aus dem Talent jedoch erwächst Verpflichtung. Der Gesellschaft hat er darüber zu berichten, was er sieht, oder wenigstens von dem, was krankhaft ist und Unruhe erzeugt. … Der Schriftsteller muss sich beunruhigen, muss sich von seinem künstlerischen Bewusstsein leiten lassen. Er hat darüber zu schreiben, was er sieht und wie er es sieht. ...
Die Aufgabe des Schriftstellers darf man nicht bloß vom Gesichtspunkt seiner Verpflichtungen vor der Gesellschaft sehen, man muss sie auch vom Gesichtspunkt der allerwichtigsten Verpflichtung - derjenigen vor jeder einzelnen Persönlichkeit – sehen. Das Leben des Einzelnen deckt sich nicht immer mit dem Leben der Gesellschaft. Nicht immer steht die Gesellschaft dem Einzelnen bei. Jeder Mensch hat vielerlei Probleme, welche die Gesellschaft nicht zu lösen vermag. Der Mensch ist zunächst ein körperliches und geistiges Wesen, und erst dann wird er zu einem Glied der Gesellschaft. Die Verpflichtung des Schriftstellers vor dem Einzelmenschen ist nicht kleiner als seine Verpflichtung vor der Gesellschaft. In unserer Zeit, da die Technik das Leben beherrscht, da materielle Wohlfahrt das Wichtigste ist, da der Einfluss der Religion auf der ganzen Welt abnimmt, ruht auf dem Schriftsteller eine ganz besondere Verpflichtung. Er hat einen verwaisten Platz einzunehmen.
[zitiert nach: Alexander Solschenizyn, Von der Verantwortung des Schriftstellers I. Hrsg. von Felix Philipp Ingold. Peter Schifferli Verlag AG Die Arche, 1969]
Ohne Ansehen der Person und furchtlos hat Solschenizyn auf Missstände und Fehlentwicklungen hingewiesen, ob nun gegenüber der weltlichen Macht, der er, wie 1973 in seinem „Offenen Brief an die sowjetische Führung“, die Hauptprobleme Russlands aufzeigte, oder gegenüber der geistlichen, der er 1972 in seinem „Fastenbrief an den Patriarchen von Moskau und ganz Russland, Pimen“ Falschheit und Feigheit vor den Mächtigen vorwarf. Durch den Nobelpreis war ihm eine relative „Unberührbarkeit“ sicher; er stand vor den Augen der Welt, durch die ein Aufschrei gegangen wäre, hätte man ihn „bestraft“. Nicht nur in seinen belletristischen Werken, sondern auch in vielen Essays, Aufrufen und Interviews nutzte er den Schutz durch die Öffentlichkeit dazu, seine Meinung offen auszusprechen.
Nach Solschenizyns Vorstellung musste der Schriftsteller das Gewissen der Gesellschaft sein, eine moralische Instanz; er musste sich seiner Verantwortung bewusst sein und selbst danach leben. Und Gerechtigkeit ist die Voraussetzung für Gewissen.
In einem Brief an drei Studenten schrieb er dazu:
Gewissen und Gerechtigkeit
Nach meinem Gefühl habe ich Euch meinen Gedanken nicht ganz ausgesprochen, nicht ganz klar gemacht. Hier noch ein paar Worte dazu.
Gerechtigkeit ist eine Errungenschaft der um Jahrhunderte zurückreichenden Menschheit und wird nie zu Ende gehen – selbst dann nicht, wenn sie sich an vereinzelten „Engpässen“ für die Mehrzahl der Leute verdunkelt. Es ist dies offensichtlich ein der Menschheit eingeborener Begriff, denn eine andere Quelle lässt sich nicht finden. Gerechtigkeit besteht, solange es Menschen – seien es auch noch so wenige - gibt, die sie empfinden. Die Liebe zur Gerechtigkeit kommt mir als ein von der Liebe zu den Menschen unabhängiges Gefühl vor (oder als eines, das nur teilweise damit zusammenfällt). Und in jenen Zeiten des Verfalls der Massen, wenn sich die Frage stellt: „um wen soll ich mich bemühen? für wen soll ich denn Opfer bringen?“ – da kann man mit voller Überzeugung antworten: für die Gerechtigkeit. Sie ist keineswegs relativ, wie etwa das Gewissen, nein, sie selbst ist das Gewissen, doch nicht ein persönliches, sondern das Gewissen der gesamten Menschheit. Wer die Stimme des eigenen Gewissens klar vernimmt, der vernimmt gewöhnlich auch die Stimme der Gerechtigkeit. Ich bin der Überzeugung, dass uns in jeder gesellschaftlichen Frage (oder, wenn wir sie nicht bloß vom Hörensagen, nicht bloß aus Büchern kennen, sondern seelisch von ihr betroffen sind, in jeder historischen Frage) die Gerechtigkeit ein Vorgehen (beziehungsweise ein Urteil) nahelegt, das niemals gewissenlos sein kann.
Da unser Verstand gewöhnlich nicht dazu ausreicht, den Gang der Geschichte zu erklären, zu verstehen und vorauszusehen - und da, wie Ihr selbst sagt, die „Planung“ der Geschichte sich als Unsinn erwiesen hat –, so werdet Ihr doch nie fehlgehen, wenn Ihr Euch in jeder gesellschaftlichen Situation für die Gerechtigkeit einsetzt … Dies gibt uns die Möglichkeit, stets – ohne je die Hände sinken zu lassen – tätig zu sein. Entgegnet mir nun aber nicht, die Gerechtigkeit werde „von jedem einzelnen wieder anders verstanden“. Nein! Man mag Euch anschreien, an der Gurgel packen, die Brust aufreißen, und dennoch sind die Regungen in Euch ebenso untrügerisch wie die Eingebungen des Gewissens. (Auch im persönlichen Leben versuchen wir ja bisweilen, unser Gewissen niederzuschreien.) So bin ich beispielsweise überzeugt, dass die Besten unter den Arabern heute gut verstehen können, dass Israel, nach Recht und Gerechtigkeit, leben und existieren darf. Ich drücke Euch die Hand!
[zitiert nach:Alexander Solschenizyn, Von der Verantwortung des Schriftstellers I. Hrsg. von Felix Philipp Ingold. Peter Schifferli Verlag AG Die Arche, 1969]
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- Hanns-Martin Wietek: Alexander Issajewitsch Solschenizyn: „Nicht nach der Lüge leben“ im ZVABlog
- Essay von Hanns-Martin Wietek: Solschenizyn - „Im Westen nichts Neues“ auf Russland.ru
- Webseiten des Autors Hanns-Martin Wietek: Büchervielfraß
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