Publiziert am 23. Oktober 2008 von Krusenstern
Omsk * Die heute 30-jährige blinde Studentin Nicole Mathys reiste für ein Jahr alleine nach Sibirien. In der Universitätsstadt Omsk verblüffte die blinde Schweizerin die Russen mit ihrer Selbstständigkeit, ihrem Wissen über Russland und dessen Literatur. Ihre Erfahrungen bieten im doppelten Sinne des Wortes “einen anderen Blick” auf das Gastland Russland, zuerst in diesem Porträt in Deutsch und Russisch – danach folgend in ihrem Reisetagebuch.
Ein spannendes Jahr in Omsk beginnt: Als Nicole Mathys in Omsk * Омск aus der Transsibirischen Eisenbahn ausstieg – nach sieben Tagen und Nächten Zugfahrt von der Schweiz über Ternopil in der Ukraine und Krasnodar am Schwarzen Meer nach Sibirien – staunte das Empfangskomitee für einen Moment: “Ich wollte nicht, dass die sich unnötig Sorgen machen und habe darum am Telefon sicherheitshalber nicht davon erzählt, dass ich blind bin”. Nach einem ersten Moment der Verblüffung wurde die Studentin der Universität Fribourg aber sprichwörtlich in die Arme genommen.
Von der Zugsfahrt über 6.000 Kilometer blieben Nicole Mathys wunderschöne Erinnerungen: “An den Haltestellen riecht es durch das offene Fenster nach Holz, in der Ferne rattert ein Pferdewagen, ein Kind schreit und Babuschkis wollen ihre Piroschkis, Beeren oder Früchte verkaufen.” Wenn der Zug wieder anfuhr, holte die blinde Schweizerin am Samowar * Самовар im Vorraum des Waggons einen im wahrsten Sinne des Wortes glühend heissen Tee – denn der Samowar wurde mit glühenden Kohlen erhitzt.
Die blinde Schweizerin studierte für ein Jahr an der Omsker Staatlichen Universität * Омский государственный университет. Die Studienkollegen und auch die Professoren dort merkten schnell, wie selbstständig die Schweizer Austauschstudentin ist und wie viel Nicole Mathys über das grösste Land der Welt an der Universität Fribourg, aber auch durch Hörbücher und Blindenschriftbücher gelernt hat.
Die verschiedenen Seiten von Russland: Die ehemalige Sowjetunion kennt Nicole Mathys nicht nur durch ihr Russistik-Studium und aus Büchern, sondern auch von verschiedenen Arbeitsaufenthalten in den baltischen Staaten Litauen und Estland sowie in Weissrussland. In diesen Ländern arbeitete sie in Kinderheimen.
Die Schattenseiten Russlands lernte Nicole Mathys als Länderexpertin der Menschenrechtsorganisation Amnesty International kennen. “Ich liebe Russland trotzdem - und umso mehr”, erklärt sie mit Überzeugung. “Es ist nicht ein Engagement gegen, sondern für die Menschen in Russland und für dieses Land.”
Während ihres Studienaufenthaltes in Omsk konnte Nicole Mathys die Praxis in den Kinderheimen und bei Amnesty International mit der Theorie verbinden: “Meine Grundlage dazu ist natürlich die russische Sprache, dann aber auch die Literatur, die gerade in Russland mit spannenden geschichtlichen und gesellschaftlichen Themen und Phänomenen zusammenhängt.” - Weiterlesen im Krusenstern-Blog
Слепая студентка Николь Матиз в Сибири
Омск * 30-летняя студентка Николь Матиз одна предприняла путешествие в Сибирь. Там слепая студентка ошеломила русских своей самостоятельностью и своим знанием России и её литературы.
Когда Николь Матиз прибыла в Омск по Транссибирской магистрали – проведя в пути семь суток из Цюриха через Тернополь и Краснодар на Чёрном море в Сибирь – встречающие её были очень удивлены: “Я не хотела, чтобы они понапрасну беспокоились, и поэтому не сказала в телефонном разговоре, что я слепая.” Однако спустя несколько минут после ошеломления студентку университета Фрибура буквально взяли под руки.
От путешествия по железной дороге протяжённостью в 6.000 километров у Николь Матиз остались прекрасные воспоминания: “На станциях через открытое окно пахло деревом, вдалеке грохотала телега, запряжённая лошадью, плакал ребёнок, и бабушки продавали свои пирожки, ягоды или фрукты”. Когда поезд снова трогался, слепая девушка из Швейцарии шла в тамбур вагона за горячим чаем из самовара, в прямом смысле слова “пылающим”, так как самовар нагревался горящим углем.
Слепая студентка из Швейцарии училась в течение года в Омском государственном университете. Сокурсники и профессора университета сразу же заметили, насколько самостоятельна швейцарская студентка, приехавшая по обмену, и как много она узнала о самой большой стране мира в университете Фрибура из аудиокниг и книг для слепых ... читать дальше
Publiziert am 24. Oktober 2008 von Krusenstern
Omsk * Für sechs Monate war der blinde Russe Wladimir Sawin als Dozent für russische Musikgeschichte an der schweizerischen Universität Fribourg tätig. Der 40-jährige Musiker und Informatiker lebt normalerweise in der sibirischen Stadt Omsk. Seine Erfahrungen bieten im doppelten Sinne des Wortes “einen anderen Blick” auf Russland und das Gastland Schweiz.
Wenn Wladimir Sawin * Владимир Савин in seiner Heimatstadt Omsk * Омск aus der Haustüre tritt, muss er aufpassen, um nicht über Abfall zu stolpern oder gar in das ungesicherte Loch einer Baustelle oder der Kanalisation zu fallen. Ungesichert sind nicht nur die Strassen in der siebtgrössten Stadt Russlands, ungesichert ist auch die Zukunft des blinden Musikers und Informatikers ... Wladimir Sawin (besuchte) in einem staatlichen Internat für blinde und sehbehinderte Kinder die Schule. Diese russischen Blindenschulen leisten gute Arbeit, ein liebevolles Elternhaus können sie aber nicht ersetzen. Wladimir litt denn auch stark unter der Einsamkeit. Trost fand er in der Musik, weshalb der begabte Junge ein Studium an der bekannten Schebalin-Fachhochschule absolvieren durfte, die nach dem bekannten russischen Komponisten Wissarion Schebalin * Виссарион Яковлевич Шебалин benannt ist. Wladimir Sawin studierte dort das chromatische Knopfakkordeon Bajan * баян. Im wehmütig erklingenden Bajan sitzt die russische Seele, heisst es. Wehmut ergriff Wladimir Sawin auch, als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 seine Stelle als musikalischer Begleiter des Volkseigenen Chores in Omsk abgeschafft wurde. Als Musiklehrer hält er sich seitdem mehr schlecht als recht über Wasser. 1999 entdeckte Sawin als erster Blinder in Omsk den Computer. Es dauerte nicht lange, und er unterrichtete als Informatiker andere Blinde und Sehbehinderte am Computer. Damals gab es in Sibirien nur wenige Computer. Und auch heute müsste zum Beispiel ein Lehrer, der mit einem Gehalt von 180 Franken ohne Nebenjob gar nicht überleben könnte, zehn volle Monatslöhne auf den Tisch legen für das billigste Notebook. Deshalb gründete Wladimir Sawin ein Projekt, welches Blinden und Sehbehinderten in Omsk den kostenlosen Zugang zu Computer und Internet ermöglichte. Dieses Projekt erhielt in einem regionalen Wettbewerb den ersten Preis, was Sawin viel Ehre brachte – aber keinen Arbeitsplatz. So arbeitete er als Musik- und Informatikdozent, verdiente zusätzlich ein paar Franken mit dem Komponieren von Schlagermusik. Ein Blinder darf in Russland nicht wählerisch sein.
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