Es war einmal ein alter Mann, der wohnte mit seinen drei Töchtern in einer Nomadensiedlung. Er lebte in Armut, sein Tschum war löchrig, warme Kleidung hatte er kaum. Dabei herrschten strenge Fröste, und sie alle froren sehr.
Einmal gab es mitten im Winter einen furchtbaren Schneesturm. Es stürmte Tag für Tag, so daß alle fürchteten, die Tschums würden vom Wind in die Taiga geweht werden. Die Menschen konnten ihre Tschums nicht verlassen und litten Hunger. „Der Schneesturm will gar kein Ende nehmen“, sprach der Alte. „Kotura, der Herr der Winde, hat ihn uns geschickt. Sicherlich zürnt er uns. Geh du, meine älteste Tochter, zu Kotura und bitte ihn, er soll dem Schneesturm Einhalt gebieten.“ — „Wie denn?“ fragte die älteste Tochter. „Ich kenne doch nicht den Weg zu ihm.“ — „Ich will es dir erklären, aber tu, was ich dir auftrage. Ich gebe dir einen kleinen Schlitten mit, schiebe ihn gegen den Wind vorwärts und gehe hinter ihm her. Bloß, darfst du nicht stehenbleiben, darfst den Schnee nicht aus den Schuhen schütten und die Schnüre deiner Kleidung, die der Wind löst, nicht zubinden. Unterwegs kommst du an einen hohen Berg, steige hinauf. Oben kommt ein kleines Vöglein angeflogen und setzt sich auf deine Schulter. Vertreibe es nicht, sondern streichle es und sei freundlich zu ihm. Wenn du zu Koturas Tschum kommst, rühre nichts an — setze dich und warte. Wenn der Herr der Winde eintritt, tue alles, was er befiehlt.“
Die älteste Tochter kleidete sich an, stellte sich hinter den kleinen Schlitten und schob ihn gegen den Wind vorwärts. Schon bald lösten sich die Schnüre ihrer Kleidung, sie begann zu frieren. Sie folgte nicht den Worten des Vaters, ordnete ihre Kleidung und schüttete den Schnee aus den Schuhen. Dann ging sie weiter, dem Schneesturm entgegen. Sie wanderte lange.
Schließlich erblickte sie einen Berg und erstieg ihn. Dort kam ein kleines Vöglein geflogen, wollte sich auf ihre Schulter setzen, aber das Mädchen fuchtelte ärgerlich mit den Armen und vertrieb es. Sie stieg vom hohen Berg hinab und betrat den Tschum des Riesen. Dort sah sie einen Renbraten liegen. Sie entfachte ein Feuer, wärmte sich, riß ein großes Stück fettes Fleisch vom Braten und aß es. Plötzlich hörte sie Schritte. Das Fell, das vor dem Eingang hing, wurde beiseite geschoben, und herein kam ein junger breitschultriger Hüne mit schönem Antlitz. Das war Kotura. Er betrachtete das Mädchen und sprach: „Willkommen! Wohne bei mir, solange du willst. Aber hilf mir ein wenig in der Wirtschaft. Ich habe gejagt und Wildbret gebracht, koche es.“
Das Mädchen kochte das Fleisch.
Kotura befahl ihr, das Fleisch aus dem Kessel zu nehmen und in zwei gleiche Teile zu zerschneiden. „Die eine Hälfte essen wir beide“, sagte er, „die andere lege in einen Holznapf und bringe sie in den Tschum nebenan, dort wohnt eine alte Frau. Reich ihr das Fleisch und warte, bis sie dir den Napf herausbringt.“ Das Mädchen nahm das Fleisch und verließ den Tschum. Der Schneesturm heulte, und die Flocken wirbelten, daß nichts zu sehen war. Nach wenigen Schritten warf sie das Fleisch in den Schnee und kehrte mit dem leeren Napf zu Kotura zurück. Er sah sie an und sagte nichts.
Erneut brach Kotura in die Taiga auf und bat die Tochter des alten Mannes, ihm Kleider aus Fellen zu nähen. Kaum hatte das Mädchen die Arbeit begonnen, als das Fell am Zelteingang beiseite geschoben wurde und eine grauhaarige Greisin eintrat. „Töchterchen“, sagte sie, „mir ist ein Staubkorn ins Auge geflogen, hole es bitte heraus.“ — „Störe mich nicht bei der Arbeit“, antwortete das Mädchen böse, „ich habe keine Zeit.“
Die Greisin sagte nichts, drehte sich um und ging.
Abends kam Kotura von der Jagd heim und fragte: „Sind die Kleider fertig?“ — „Ja.“ Kotura betastete die Kleider — die Felle waren hart, schlecht gegerbt, und genäht waren sie auch schlecht: schief und gar nicht passend. Da erzürnte der Riese und jagte die Tochter des alten Mannes aus seinem Tschum hinaus.
Der Schneesturm aber wütete noch heftiger. Die Menschen zitterten in ihren Zelten. Jagen konnten sie nicht, die Tiere hielten sich alle versteckt, es war nichts zu sehen auher dem weihen Flockenwirbel. Die Kinder weinten vor Hunger, und die Mütter konnten ihnen nichts geben. „Meine älteste Tochter hat nicht auf mich gehört“, klagte der Alte. „Sie hat nicht getan, was ich ihr aufgetragen habe. Darum zürnt Kotura noch mehr. Brich du jetzt zu ihm auf, meine zweite Tochter!“
Aber auch die zweite tat nicht, was der Vater geheißen, und der Riese jagte sie aus seinem Tschum hinaus.
Der Alte aber saß in seinem Tschum mit der jüngsten Tochter, während der Sturm immer stärker tobte und die Zelte umriß, so daß viele Menschen ohne Obdach blieben. „Jetzt bist du an der Reihe, meine inniggeliebte jüngste Tochter“, sprach der Alte traurig. „Ich möchte dich nicht gehen lassen, aber wenn ich dich nicht schicke, verhungern alle Stammesgenossen.“
Das Mädchen verließ den väterlichen Tschum und ging hinter dem kleinen Schlitten dem Schneesturm entgegen. Im Schneetreiben war nichts zu sehen, die Flocken verklebten ihr die Augen, der böse Wind fuhr ihr unter die Kleider und löste die Schnüre, der kalte Schnee geriet ihr in die Schuhe. Aber das Mädchen ging vorwärts und achtete weder auf den Frost noch auf den Sturm. Sie tat alles, wie der Vater geheißen. Sie erstieg den Berg, und da kam das Vöglein geflogen. Das Mädchen vertrieb es nicht, sondern streichelte sein Gefieder und war freundlich zu ihm. Dann setzte sie sich auf den kleinen Schlitten, fuhr bergab und kam geradeswegs zu Koturas Tschum.
Er erblickte das Mädchen und fragte lachend: „Warum bist du zu mir gekommen?“ — „Um dich zu bitten, dem Schneesturm Einhalt zu gebieten. Sonst müssen alle Menschen in unserem Lager sterben.“ —„Warum bleibst du draußen stehen? Tritt ein, mache Feuer und koche Fleisch. Ich bin hungrig, und du bist es gewiß auch nach dem langen Weg.“ Das Mädchen griff nach dem Kessel, säuberte ihn und kochte rasch das Fleisch.
Nachdem sie gegessen hatten, bat Kotura das Madchen, die Hälfte des Fleisches zum benachbarten Tschum zu bringen. Das Mädchen nahm den Holznapf mit dem Fleisch und verließ den Tschum. Aber wohin? Wo sollte sie den Tschum suchen? Sie blieb ein Weilchen stehen, überlegte und ging dann aufs Geratewohl vorwärts. Plötzlich kam das kleine Vöglein geflogen, das sich auf dem Berg auf ihre Schulter gesetzt hatte. Das Vöglein flatterte vor ihrem Gesicht und zeigte ihr den Weg. Das Mädchen brauchte bloß hinterherzugehen. Plötzlich sah sie Rauch aus dem Schnee steigen. Die jüngste Tochter des alten Mannes ging näher heran, scharrte mit dem Fuß den Schnee beiseite und erblickte den Eingang. Eine grauhaarige alte Frau schaute heraus und fagte: „Wer bist du? Was möchtest du?“ — „Ich habe dir Fleisch gebracht, Großmutter.“ — „Hab Dank, Töchterchen . . . Gib es mir. Bleibe solange draußen stehen.“
Das Mädchen mußte lange warten und begann zu frieren. Endlich öffnete sich der Eingang wieder, die Alte schaute heraus und reichte ihr den Napf. Aber im Napf lag etwas. Das Mädchen kehrte zu Kotura zurück und betrachtete jetzt die Geschenke. Es waren Messer, Schabeisen, ein Walkholz, um Felle herzurichten, und Stahlnadeln. Da lachte Kolura. „Sie hat dir viele nützliche Dinge geschenkt. Nähe mir neue Kleider, ich will derweil auf die Jagd gehen.“ Das Mädchen machte sich an die Arbeit, aber wieviel kann man an einem Tag schon schaffen? Plötzlich trat die alte Frau ein, der sie das Fleisch gebracht halte. „Sei so gut“, sprach sie, „und hole mir ein Staubkorn aus dem Auge.“ Das Mädchen wies sie nicht ab, legte die Arbeit aus der Hand und entfernte das Staubkorn aus dem Auge. ,,So ist's gut, das Auge tut nicht mehr weh“, sagte die Alte. „Du hast mir geholfen, und auch ich werde mich dir nützlich erweisen.“
Damit ging sie hinaus, kehrte aber schon bald mit vier jungen Mädchen zurück. „Da hast du Helferinnen, zu fünft werdet ihr bis zum Abend fertig.“ Sie walkten die Felle, schabten sie, schnitten sie zu und nähten. Ehe sie sich's versahen, dunkelte es, und Kotura kehrte von der Jagd heim. Als er die fertigen Kleider sah, wollte er sie anprobieren. Er nahm sie zur Hand, betastete sie — die Felle waren weich. Er zog die Kleidung an, die war nicht zu eng und nicht zu breit, sondern passend zugeschnitten und gut genäht. Da sprach Kotura lächelnd: „Du gefällst mir, schönes Mädchen. Du hast ein goldenes Herz und flinke, fleißige Hände. Du bist auch mutig, hast es mit dem fürchterlichen Schneesturm aufgenommen, damit dein Volk nicht untergeht. Werde meine Frau. Meine Mutter hat auch Gefallen an dir gefunden, und meine Schwestern haben dich liebgewonnen. Bleibe für immer in meinem Tschum.“
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als der Schneesfurm aufhörte. Die Menschen brauchten sich nicht mehr zu verstecken und froren nicht mehr. Die Männer gingen auf die Jagd, die Frauen besorgten die Wirtschaft, und die Kinder spielten und waren wieder fröhlich.
*) Die Ewenken haben sich über ein großes Territorium Mittel- und Ostsibiriens ausgebreitet. Heute sind sie im Ewenkischen Nationalen Kreis innerhalb der russischen Föderation vereint. Die Hauptbeschäftigung der Ewenken sind Jagd und Rentierzucht. Die traditionelle Behausung der Ewenken ist der Tschum, ein Kegelförmiges Zeit mit zwanzig bis fünfundzwanzig Stangen, über die Felle gespannt werden. Früher fertigten die Ewenken auch ihre Kleidung aus Tierfellen an. Die Religion der Ewenken waren der Schamanismus und der Jägerkult der ,,Herren der Natur“. In der Sowjetzeit gingen die nomadisierenden Rentierzüchter zu einem seßhaften Leben über. Moderne Dörfer und Siedlungen wurden gebaut, die Kinder der Ewenken gingen zur Schule und studierten. Es entstanden eine nationale Schrift und eine eigene Literatur in der Muttersprache.
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