Dienstag, 20. Januar 2009

Karl König

Ein Brief an die Eltern
- Quelle: Freundeskreis Camphill -

Karl König konnte wegen Erkrankung an einem Treffen mit den Eltern seelenpflegebedürftiger Kinder nicht teilnehmen. Deshalb schrieb er ihnen den folgenden Brief: Brachenreuthe, 1. Mai 1965

Liebe Eltern!

Zum meinem großen Bedauern ist es mir leider nicht möglich, bei Ihrer Zusammenkunft persönlich anwesend zu sein, Sie zu begrüßen, mit Ihnen zu sprechen und auch etwas von meinen Gedanken und Empfindungen zu erzählen, die ich an einem solchen Tage hege.
Aber Sie werden mein Fernsein entschuldigen, wissend, dass ich im Augenblick krank bin und deshalb nicht zu Ihnen sprechen kann. Man kann das so schwer niederschreiben, was so gerne mündlich gesagt worden wäre, weil ja der menschliche Kontakt nicht da ist, der sonst den Sprecher trägt und fördert.
Was ich aussprechen wollte, wäre etwa das Folgende gewesen: dass Sie, als Eltern, doch versuchen sollten, sich immer mehr und mehr mit unserer Arbeit, die wir hier tun, zu verbinden. Nicht nur, weil wir sie für Ihre Kinder tun, sondern weil sie überhaupt geschieht. Denn im Zusammenhang mit behinderten, zurückgebliebenen und seelen-
Pflegebedürftigen Menschen entsteht ein neues Gleichnis wahrhaftiger Menschlichkeit.
Und es sind nicht die Lehrer, Pfleger, Helfer und Ärzte, die dieses Gleichnis schaffen; sie bemühen sich nur darum, es sichtbar zu machen, so dass es – mit Goethes Wort – ein offenbares Geheimnis wird. Wirklich aber schaffen es allein die Kinder, die Ihnen und uns anvertraut sind: Ihnen als Eltern und uns als Erzieher im weitesten Sinne.
Wir alle sollten immer mehr davon durchdrungen sein, dass diese Kinder unsere Lehrer sind; Lehrer in einem höheren Sinne. Denn sie haben ihr Schicksal – verkrümmt und verkrüppelt, verbildet und zurück zu sein – auf sich genommen. Sie klagen nicht und sind nicht mürrisch. Sie klagen auch nicht an und hadern nicht. Vielmehr nehmen sie ihr Andersein auf sich, mutig wie einer sein Kreuz auf die Schulter nimmt, und sagen restlos JA dazu.
Wir sollten nicht glauben, dass sie nicht verstünden, wer und wie sie sind. Sie wissen es genau und bleiben dennoch mutig, froh und voller Hoffnung. Sollten wir uns nicht ein Beispiel an ihnen nehmen? Wir alle? Wer von uns lässt nicht öfter als unsere Kinder den Mut sinken und die Hoffnung fahren? In diesem Sinne meine ich, dass sie unsere Lehrer sind.
Aber auch noch in einem andern Sinne: Jedes unserer Kinder hilft mit, eine große Schlacht zu gewinnen, die seit Jahrtausenden von den Menschen geschlagen wird. Die gesamte Geschichte, in all ihren Leiden, Taten und Errungenschaften, ist Ausdruck dieses Kampfes: Es ist der dauernde Kampf, den der Geist gegen die Not unseres Leibes zu führen hat. Jenes Leibes, der seit dem Sündenfall unsere Seelen verstrickt und von ihnen durchdrungen ist. Der in jedes Menschen aufleuchtende Geist seiner Individualität versucht immer neu, sich dem Griff der Sünde zu entziehen. Ist der Leib gesund, verfallen wir allzu leicht seinen Trieben, Begierden und Sehnsüchten. Ist er aber leidend und begresthaft, dann erinnert er uns an die Not und Mühe alles daseins.
Das ist, was unsere Kinder uns dauernd vor Augen führen. Sie zeigen uns die andere Seite des Lebens, die ebenso notwendig und wichtig ist wie jene, in die wir tagtäglich verfallen sind. Auch darin sind unsere Kinder Lehrer. Sie helfen uns – durch ihren täglichen Anblick, durch ihre Not und Mühsal -, den Geistfunken unserer Seele wach zuhalten und das Öl in unseren Lampen nicht zu vergessen. Unsere Kinder sind nicht Krieger, sondern sanfte, aber stete Mahner in der großen Schlacht der Menschheitsgeschichte.
Was würden wir ohne sie tun? Käme nicht die ganze Menschheit aus ihrem sozialen Gleichgewicht, wenn nicht Leid und Schmerz, Anderssein und Sondersein stets vor uns hintreten würden? Nur Oberflächlinge können der Meinung sein, dass die Welt ohne Krankheit und Not bestehen sollte. Wäre das so, wie würden wir wissen, was Freude und Frohsinn ist? Ist nicht die alles durchwaltende Liebe beides: Schmerz und Freude?
Ist nicht Gnade beides: Anfechtung und Überwindung? Ist nicht der Glaube beides:
Zweifel und Seligkeit?
Dessen wollen wir uns in solchen Augenblicken erinnern; wollen ein volles ganzes JA zu unseren Kindern und ihrem und unserem Schicksal , zu dieser schweren Aufgabe sagen. Dieses JA erst gibt unseren Kindern den wahren Grund und Boden, auf dem sie stehen und leben können. Solch ein JA allein gibt ihnen die Festigkeit ihrer und unserer Existenz.
Denn dann erst bekräftigen wir das Wort, das Christus seinen Jüngern sagte, dass die nur selig sind, die da Leid tragen. Sie sollen getröstet werden, aber im Trösten werden sie noch größeren Trost spenden.
Solche Gedanken können uns – Eltern und Erzieher – vereinen.
Unsere Kinder sind nicht nur da, dass wir ihnen helfen, sondern sie sind da, damit uns durch sie geholfen wird.
Es ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen; eine Kraft kann daraus entstehen, die heute so selten geworden ist, die wir alle zu verlieren scheinen und die doch so wichtig ist im menschlichen Zusammensein: Vertrauen.
Vertrauen in den anderen Menschen.
Vertrauen in die göttliche Welt.
Rudolf Steiner wurde einmal gefragt, was der heutigen Welt Not tut. Er antwortete: „Aus eigenem Vertrauen leben, ohne jede Daseinssicherung, aus dem Vertrauen in die immer gegenwärtige Hilfe der geistigen Welt.“
Das aber können wir täglich neu von unseren Kindern lernen, und wir wollen versuchen, es nicht mehr zu vergessen.
Das war es, was ich Ihnen, liebe Eltern, zum Gruß und zum Steuer Ihres Wirkens sagen wollte.
Ihr Dr. König

Karl König
Das Seelenpflege-bedürftige Kind - Vom Wesen der Heilpädagogik
hrsg. von Peter Selg, Verlag Freies Geistesleben 2008, 208 S., geb. m. Schutzumschlag, ISBN-13: 978-3-7725-2402-8, 24,90 EUR
Der vorliegende Band vereinigt Aufsätze, Vorträge, Manuskripte, Notizbuchstudien und Briefe Karl Königs, die das Wesen der Heilpädagogik betreffen. Sie eröffnen ein bewegendes Bild dessen, was im innersten Zentrum von Königs medizinisch-heilpädagogischer und sozialer Tätigkeit stand, und sind von großem öffentlichem Interesse – als Bausteine einer humanen Zukunftskultur.
»Allumfassend ist Heilpädagogik nicht nur Wissenschaft, nicht nur praktische Kunst, sondern menschliche Haltung. Als solche kann sie gleich einer heilenden Arznei denen gereicht werden, die unter der alles zermalmenden Bedrohung der menschlichen Person stehen. Das aber ist das Schicksal eines jeden Menschen von heute. Ihm zu widerstreben, zu helfen, und Hilfe zu empfangen, ist Sinn und Wert heilpädagogischen Tuns.« (Karl König)

Karl König
Meine zukünftige Aufgabe - Autobiografische Aufzeichnungen und lebensgeschichtliche Zeugnisse
hrsg. von Peter Selg, Verlag Freies Geistesleben 2008, 208 S., geb. m. Schutzumschlag, ISBN-13: 978-3-7725-2401-1, 24,90 EUR
In seinem letzten Lebensjahr entstand Karl Königs «autobiografisches Fragment». Der von Peter Selg bearbeitete Band der Werkausgabe macht diese bedeutende Aufzeichnung zugänglich, ergänzt um biografische Erinnerungen von Schülern und Mitarbeitern Karl Königs und einem längeren Aufsatz des Herausgebers. Die Texte zeichnen ein eindrucksvolles Porträt von Königs Lebensgang.
"Keinem versagte Karl König die volle Hilfsbereitschaft. Manchmal war dieses Mittragen von Schwierigkeiten anderer Menschen fast heldenhaft, und viele haben seine außergewöhnliche lebensspendende Tragkraft erlebt. Dr. König machte viele Fehler, und er hatte den Mut, Fehler zu machen. Er setzte ständig etwas aufs Spiel. Er war nicht vorsichtig, sondern lieber voller Vertrauen in die Menschen, und seine Fehler lagen meist darin, dass er andere Menschen zu hoch einschätzte. Er glaubte an die guten Kräfte." (Anke Weihs)

Die Karl König Werkausgabe erscheint ab dem Jahre 2008 sukzessive im Verlag Freies Geistesleben sowie in englischer Sprache bei Floris Books. Sie wird herausgegeben vom Ita Wegman Institut für anthroposophische Grundlagenforschung in Arlesheim und dem Karl König Archive Aberdeen.). Es berücksichtigt den gesamten, umfangreichen Nachlass Karl Königs – seine sämtlichen Bücher, Aufsätze und Manuskripte, Vorträge und Vortragsvorbereitungen, seine Tagebuch- und Notizbucheintragungen, seine künstlerischen Arbeiten und seine weitläufige Korrespondenz. Die einzelnen Bände der Werkausgabe werden in zwölf thematischen Kategorien publiziert. Es ist das Ziel der Ausgabe, Königs umfangreiches Lebenswerk in systematischer Weise zu erschließen und der Öffentlichkeit bekannt zu machen, eine Arbeit, an der zahlreiche Mitarbeiter aus verschiedenen Ländern beteiligt sind.
Die Bände der Werkausgabe beinhalten folgende Themengebiete: Zur Biografie Karl Königs / Heilpädagogik und Sozialtherapie / Psychologie und Pädagogik / Landwirtschaft und Naturwissenschaft / Allgemeine Anthroposophie / Zum inneren Schulungsweg / Das Christentum und seine Jahresfeste / Die soziale Frage / Geistesgeschichte und biografische Arbeiten / Das künstlerische und literarische Werk / Die Camphill Bewegung / Medizin und medizinische Menschenkunde - Geplant ist das Erscheinen von je 2 Bänden im Halbjahr.

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