Samstag, 10. Januar 2009

Elena, Igors Mutter, erzählt

Bild: Elena als Klassenlehrerin

Ich grüße Dich, Lieber Leser!

Ich heiße Elena, Elena Berdytschevskaja. Ich lebe in Russland, in der sibirischen Stadt Irkutsk, die sich am Ufer des schönsten Flusses der Welt, der türkisblauen Angara, befindet. Nicht weit von Irkutsk liegt der kalte majestätische Baikalsee. Irkutsk ist eine schöne alte Stadt, typisch sibirisch, mit den Steinstraßen und Kathedralen im Stil des russischen Barocks, mit Holzhäusern, geschmückt mit Holzschnitzereien. Ich lebe in Irkutsk nicht sehr lange, nur seit 14 Jahren, und gerade das Leben in dieser Stadt hat mich in eine wunderbare Einrichtung gebracht, über die ich der ganzen Welt erzählen will.

Vor 15 Jahren versprach das Leben nichts Ungewöhnliches. Meine beiden lieben Söhne, der sechsjährige Shenja und der zweijährige Igor, wuchsen heran. Bald, so schien es, sollte Igor in den Kindergarten und ich arbeiten gehen. Vor Igors Geburt beendete ich das Konservatorium und unterrichtete erfolgreich in der Musikfachschule.

Einiges war seltsam in Igors Verhalten und verblüfften mich ein wenig, aber ich konnte mir nicht vorstellen, was weiter geschah. Die Krise brach unerwartet aus, zwei Monate vor Igors drittem Geburtstag. Demjenigen, der mit Autismus bekannt ist, braucht man weiter nichts zu erzählen: es gab eine richtige psychische Krise und ich erfuhr, dass mein jüngerer Sohn ein besonderes Kind ist, ein Autist. Ich war erschüttert und sehe heute die Grenze: das Leben "vor" und das Leben "danach ". Weiter waren vier Jahre der Hölle, Leidenswege.

Genauso wie andere Eltern habe ich lange Zeit nach einer „wundertätigen“ Behandlung gesucht - selbstverständlich erfolglos. Die Situation war so, dass man nur eines denken konnte: das normale Leben war beendet. Ich kann nicht arbeiten, weil ich Igor nicht alleine lassen konnte. Mit ihm zusammen zu sein war für mich auch eine tägliche Prüfung: ich verstand ihn nicht, er weinte die ganze Zeit, jeden Tag gab es Wutanfälle, und ich weinte zusammen mit ihm. Ich dachte, ich kann mich nicht mehr mit Fähigkeiten in die Gesellschaft einbringen, meine Musikausbildung geht verloren.

Mit Igor wurden wir zu Ausgestoßenen - man ließ ihn nicht in den Kindergarten; ich wollte ihn immer vor den neugierigen Blicken und Verspottungen auf der Straße, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, in den Geschäften schützen, ich sollte stets etwas den erstaunten oder unduldsamen Mitmenschen erklären. Jeden Tag ging ich aus, wie zu Golgatha. Als der ältere Sohn Schüler geworden war, nahm Igor seine Schultasche und ging in der Wohnung herum, wiederholend: „in der Schule lernen“. Ich tat, als ob ich durchs Fenster sehe und weinte schweigend, damit er es nicht sah. Wie ich ihn liebe, brauche ich nicht zu erzählen. Es ist Liebe - Krankheit, Liebe - Leiden, Leiden, die die Seele umkehrt und im Herzen weh tut.

Warum erlaube ich es mir, über mein Schicksal so ausführlich zu berichten? Weil es eine Situation ist, in die Hunderte von Menschen geraten, die ein krankes Kind in die Familie bekommen, besonders wenn die Krankheit mit Intelligenzschädigung verbunden ist.

Sogar jetzt, im Jahre 2008, funktionieren in unserem Land keine Schutzmechanismen für Familien mit behinderten Kindern. Die Geburt des intelligenzgeschädigten Kindes bedeutete und bedeutet auch jetzt, dass die Familie in eine katastrophale Situation gerät. Der Staat selber bietet nur zwei Möglichkeiten: das Kind in ein geschlossenes Internat abzugeben, und wenn die Eltern sich von ihrem Kind nicht trennen wollen (Gott sei Dank, das ist eine normale, gesunde christliche Entscheidung!), dann wird eine Rente ausgesetzt (die ungefähr 50 Prozent von minimalem Gehalt ausmacht) und das Kind bleibt in der Familie. Dabei ist die Frage seiner Entwicklung, Bildung und Erziehung ganz der Sorge der Eltern überlassen. Es gibt keine staatlichen Ausbildungseinrichtungen und über „Pribaikalski Talisman“ sagten uns weder Ärzte noch Angestellte in den Sozial-Behörden etwas. Tatsächlich wird das Kind zum Gefangenen in den vier Wänden seiner Wohnung und seine Familie gerät in die soziale Isolierung. Die Mutter ist gezwungen, mit dem Kind zu Hause zu bleiben, kann nicht in ihrem Fachbereich arbeiten, verliert ihre berufliche Qualifikation, befindet sich im chronischen Stresszustand, da alle Pläne fürs Leben zerstört sind. Viele Familien zerfallen, die Leute ertragen die psychische Überlastung nicht.

Wie viele Geschichten sollte ich in diesen 14 Jahren hören, die einander ganz ähnlich sind! Die Erschütterung der Mutter, wenn sie erfährt, dass ihr Kind aus den Standards der Kindheit "herausfällt". Die Verzweiflung, die ständigen Besuche der Ärzte - verschiedene Ärzte, jahrelang. Untersuchungen, Behandlungen, Hoffnungen, die wie Seifenblasen zerplatzen. In der zweiten Hälfte des Vorschulalters kommen noch Besuche zu Psychologen und Logopäden hinzu, die kaum Resultate, höchsten einen trügerischen Selbsttrost bringen: „Ich mache alles, was ich kann!“

So vergehen die Vorschuljahre. Für das soziale Leben ist das Kind verloren. Jedes Erscheinen in der Öffentlichkeit – beim Spaziergang mit dem Kind auf der Straße, ob beim Einkaufsbummel oder beim Besuch der Poliklinik – wird zu einer Prüfung für die Mutter wegen der Reaktionen der Umgebung: neugierige Blicke, rücksichtslose Fragen, Kommentare, oft Spott.

Mit dem Eintritt in das Schulalter des Kindes wird die Situation noch dramatischer. Wir wissen, wie schwer die Erkrankung des Kindes auch sein mag, so lebt in ihm doch auch das natürliche menschliche Bedürfnis, die Umgebung zu erkennen, tätig zu sein, mit anderen Kindern zu verkehren, sich zu äußern u.s.w. Und solche Möglichkeit gibt es in Russland einfach nicht!

Igor beim Malen

Jetzt, 14 Jahre später, kann ich die Situation im Ganzen sehen. Damals war es einfach meine persönliche Sackgasse, aus der ich keinen Ausgang finden konnte. Es kommt mir in diesem Zusammenhang ein wunderbarer Ausspruch in den Sinn, ich weiß nicht mehr, von wem er ist: „Wir denken, dass wir unser ganzes Leben sehen. Aber wir sehen es nur bis zur nächsten Wende“. Solche Wende geschah in meinem Leben (richtiger, in unserem Leben mit Igor) 1998, als ich erfuhr, dass es in unserer Stadt die Organisation, „Pribaikalski Talisman“ gibt, die mit „solchen“ Kindern arbeitet. Ich weiß nicht, worauf ich hoffte, als ich auf die Suche nach diesem geheimnisvollen „Pribaikalski Talisman“ ging. Ich sah, dass Igor nicht in der Lage ist, irgendwelche Anforderungen zu verstehen oder zu erfüllen: zum Beispiel auf der Schulbank zu sitzen und jemandem zuzuhören. Er war wie „eine Katze, die ganz für sich allein spaziert“. Aber ich wünschte so sehr, dass man ihm erlaubt, unter anderen Kindern zu sein! Nur verweilen, und wenn auch nur manchmal!

Und so habe ich das Haus an der gegebenen Adresse gefunden. Es war August, Ferienzeit. Ich sah ein hölzernes Häuschen und eine gewöhnliche, sehr arm eingerichtete Dreizimmerwohnung, die gerade renoviert wurde. An der Renovierung waren drei Menschen beteiligt: ein junger Mann - ein Deutscher, mit ihm ein geheimnisvoll aussehender junger Mann mit langen Haaren, zu einem Pferdeschwanz gebunden, und eine Frau, die sehr beschäftigt war. Die Frau - es war Valentina Livindina – sagte mir: wenn ich will, dass mein Kind die Talismanschule besucht, dann soll ich das dreijährige heilpädagogische Seminar besuchen. Damals hörte ich zum ersten Mal diese Wörter: „die Heilpädagogik von Rudolf Steiner“. - So fand dieses Treffen statt, das zum Ausgang aus der Sackgasse, zum Eingang in eine andere Welt, voll von Tätigkeit, Arbeit und Entdeckungen wurde.

Ich brauche nicht weiter über uns mit Igor ausführlich zu berichten: seit dieser Zeit ist unser Leben eng mit Talisman verbunden. Ich habe das heilpädagogische Seminar besucht, später bot ich an, Musikstunden zu geben, was mit großem Zweifel und vielen Vorbehalten angenommen wurde - und es war richtig, weil meine Vorstellungen von Musikunterricht meilenweilt entfernt waren von den Bedürfnissen einer heilpädagogischen Einrichtung. Ich habe es in den ersten Stunden verstanden, ich sollte viel lernen, und es hat alle meinen bisherigen Vorstellungen von Musikunterricht umgedreht!

Igor wurde in die zweite Klasse aufgenommen, und er war das einzige Kind in der ganzen Geschichte der Schule, das die Mutter einfach nicht losließ, es war nichts zu machen: sobald ich versuchte, die Klasse zu verlassen, stürzte er mir mit einem verzweifelten Schrei hinter her. Das Kollegium war gezwungen, mir zu erlauben, beim Unterricht dabei zu sein. Offensichtlich war es nicht zufällig, denn gerade das erlaubte mir, mich in die Heilpädagogik zu verlieben und Klassenlehrerin werden zu wollen. Schon im nächsten Schuljahr übernahm ich meine eigene Klasse mit riesigem Enthusiasmus!

Jetzt bin ich schon seit 10 Jahren in der Talismanschule. Es sind schöne Jahre. Was ich im Laufe dieser zehn Jahre beobachte, ist wahrhaftig außerordentlich, bewunderns- und achtenswert, gerade darüber will ich der ganzen Welt erzählen!
Wie konnte eine solche Organisation, wie die heilpädagogische Schule „Pribaikalski Talisman“, entstehen, wie kann sie leben, - es scheint, dass sie trotz allem „Unmöglichen“ existiert!

(Dies ist der Auszug aus einem längeren Bericht von Elena Berdytschevskaja, die heute Leiterin der Talisman-Schule ist. Der Bericht wird erscheinen in dem Buch: Peter Marti (Hrsg.), „BERYOSA - DIE BIRKE. Weshalb ausgerechnet Sibirien?“ siehe Hier im Blog

Hier noch die Schlußworte Elenas:

Ich begann meine Erzählung damit, wie Igor und ich uns zu Talisman gebracht haben. Ich habe ihn gebracht, und er hat mich gebracht. Vielleicht ist es dem Leser interessant zu erfahren, wie Igor sich entwickelt hat, wie sich sein Leben in Talisman gestaltete? Man kann nur sagen: ausgezeichnet! An Igors Beispiel ist es sehr gut sichtbar, über welche Kraft die Heilpädagogik verfügt. Alles, was mit ihm geschah, war für mich unerwartet. Er machte immer viel mehr, als ich von ihm erwartete. Er wurde ein musterhafter Schüler, der auf der Schulbank sitzt und im Heft arbeitet. Er hat Lesen und Schreiben gelernt. Er hat gelernt, wunderbar zu malen und seine natürliche Gabe für das Plastizieren hat sich gut entwickelt. Er hat gelernt, mit Holz zu arbeiten und seine Erzeugnisse rufen aufrichtiges Erstaunen hervor. Er ist ein ernster und gut erzogener junger Mann, der Ordnung und Disziplin versteht. Jetzt ist er 17 Jahre alt und er schlägt eine neue Seite in seinem Leben auf – er versucht, im sozialtherapeutischen Dorf „Istok“ zu leben. Die Mitarbeiter sind mit ihm zufrieden: er melkt Kühe, reinigt den Stall, arbeitet in der Holzwerkstatt, ist sehr selbständig. In diesem Winter verwirklichte er sein Traumprojekt: er will einen großen Eisturm bauen, um auf ihm wie Lenin zu stehen! Aus irgendeinem Grunde war er von diesem Bild seit seiner Kindheit beeindruckt!

Unsere Anliegen:

Keine Kommentare: