Samstag, 13. Dezember 2008

Russische Literaten: Nikolaj W. Gogol

Hanns-Martin Wietek
Nikolaj Wassiljewitsch Gogol
, die russische Seele

Der „göttliche“ Alexander Puschkin, der „wild- draufgängerische“ Offizier Michail Lermontow und die „Seele“ Nikolaj Gogol – diese drei Namen stehen für den Übergang von der Romantik zum Realismus in der Epoche der nicht nur literarischen Zeitenwende Russlands in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Puschkin – noch ganz Romantiker – begründete seinen Ruhm noch mit Poemen, Gedichten, mit Lyrik, und begann erst am Schluss seines Lebens, in Prosa zu schreiben. Lermontow feierte seine Erfolge ebenfalls noch mit Lyrik, ging aber sehr bald zu einer Prosa über, die schon Züge des Realismus trägt. Und Gogol feierte seinen einzigen, dafür aber großen Misserfolg mit seiner ersten Veröffentlichung, der Versidylle Hans Küchelgarten (1829). Er verbrannte die Reste der Auflage und „flüchtete“ nach Lübeck, Travemünde und Hamburg. Nie wieder versuchte er sich an der Lyrik; er wurde zum Begründer eines „fantastischen“, eines grotesken Realismus, der bis in unsere heutigen Tage zu einem Spezifikum der russischen Literatur geworden ist.
In der Zeit der russischen Romantik – die 20er-, 30er- und 40er-Jahre des 19. Jahrhunderts – liegen aber nicht nur die Wurzeln der russischen Prosaerzählung, sondern auch die Wurzeln dessen, was man bis heute als russischen „Volkscharakter“ ansieht. Der religiös geprägte Gogol war maßgeblichan dieser „Selbstfindung“ beteiligt, wenn nicht gar ihr Protagonist. Er sah in St. Petersburg mit seinem Hofstaat das verkörpert, was er aus tiefster Seele verabscheute: den westlichen Individualismus mit seiner Oberflächlichkeit, die Gier nach Geld und Macht, Korruption, den Geiz, Gottlosigkeit, schlicht das Fehlen jeder gottverbundenen Menschlichkeit. Dieser Welt stellte er den Glauben an die tief im russischen Menschen (und darunter ist der russische Bauer zu verstehen, denn abgesehen von Moskau und eben St. Petersburg gab es in Russland fast nur Landbevölkerung) verwurzelte Frömmigkeit und Gottergebenheit und an dessen Liebe zu „Mütterchen Russland“ gegenüber.
Der bewusst antirationalen Mystik des russisch-orthodoxen Glaubens – eine Mystik, die sich vollständig mit den Vorstellungen der Romantik deckt – fügte Gogol einen aus diesem Glauben geborenen messianischen Grundgedanken hinzu. Für ihn lebte der Bauer den Glauben beispielhaft vor aller Welt und bewirkte damit eine geistige Vereinigung der gesamten Christenheit, eine „Allchristenheit“. Diese Überzeugung brachte in Verbindung mit der offensichtlichen Liebe des Bauern zu seinem „Mütterchen“ den Begriff der „Russischen Seele“ hervor, eine Art Nationalgeist, wie ihn schon der in Russland sehr verehrte deutsche Romantiker Friedrich Schelling für eine Nation entwickelt hatte. Von dieser Vorstellung war es nur noch ein kleiner Schritt zum Empfinden, dass das russische Volk einen eigenen Weg gehen müsse, unabhängig von den Regeln und Überzeugungen des Westens. Der Grundgedanke der Slawophilen war geboren und in den vierziger Jahren fanden sie sich auch als Gruppe zusammen.
Auch vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass Gogol neben Puschkin zu dem russischen Schriftsteller wurde und sich viele nach ihm auf ihn beziehen – von Dostojewski und Tolstoi bis hin zu Solschenizyn. Zwangsläufig wurde und blieb er bis heute auch Streitobjekt zwischen Westlern und Slawophilen; so ist unter anderem die Renaissance zu erklären, die er im heutigen Russland erlebt.
Nikolaj W. GogolNikolaj Wassiljewitsch Gogol entstammt einer ukrainisch-polnischen Gutsbesitzersfamilie, die eigentlich Janowskij hieß, und kam am 20. März jul / 1. April greg 1809 im ukrainischen Gouvernement Poltawa zur Welt; den Namen Gogol (dt. Schellente) legte sich die Familie 1792 zu, um ihren (etwas fragwürdigen) Adelsstatus nach russischen Recht bestätigt zu bekommen. Sein Vater war ein „Heimatdichter“ und so wuchs Nikolaj mit ukrainischen Geschichten und Märchen, vor allem aber auch in einer sehr religiösen Familie auf; diese Religiosität hat sein ganzes Leben geprägt. Auf sie ist zurückzuführen, dass er die Menschen seiner Erzählungen nicht sozialkritisch bissig, sondern immer menschlich unzulänglich darstellt, wobei er seine Kritik humorvoll durch eine bis ins Groteske reichende Überzeichnung ausdrückt.
Natürlich enthalten die in den Petersburger Erzählungen (auch: Petersburger Geschichten oder Petersburger Novellen) zusammengefassten Erzählungen „Petersburger Skizzen“, „Der Newskij Prospekt“, „Das Porträt“, „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“, „Die Nase“ und „Der Mantel“ oder das Stück Der Revisor (1836) und selbstverständlich auch Die toten Seelen Sozialkritik – und je nachdem, aus welcher politischen Ecke der jeweilige Interpret kommt, wird das mehr oder weniger betont –, in erster Linie aber sind es die Personen, die Charaktere, die er – im doppelten Sinn des Wortes – vorführt. Keinesfalls will Gogol – vielleicht gar revolutionär – das System umstürzen; er will die Menschen erziehen, was ihn, wenn er wie im zweiten Teil der Toten Seelen die Humoreske zugunsten des Predigerhaften zurückdrängen wollte, in seinem Schaffen fast scheitern ließ ... Weiterlesen im ZVABlog - Webseiten des Autors Hanns-Martin Wietek: Büchervielfraß

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