Verlag Sankt Michaelsbund 2007, 192 S., fest geb., ISBN 978-3-920821-98-6, € (D) 12,90, € (A) 13,30, SFr 19,00
Dieses schmerzhaft genaue Buch enthält Aufsätze und Vorträge von Peter Radtke. Selbst schwer behindert, denkt er nach über den Begriff der Normalität. Er will wissen, was Selbstbestimmung für Menschen mit einer Behinderung bedeuten kann. Besonders engagiert setzt er sich mit der pränatalen Diagnostik und der Palliativmedizin auseinander. Die Begriffe „Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung“ werden ebenso thematisiert wie „Ethik in der Medizin“ oder „Zeit und Raum aus der Sicht behinderter Menschen“. Leidenschaftliche Plädoyers mischen sich mit nachdenklichen, einfühlsamen Kommentaren und Beschreibungen. In diesem Buch werden Fragen der Ethik neu verhandelt - nein, nicht verhandelt, sondern klargestellt. Wer dieses Buch gelesen hat, sieht behinderte Menschen mit anderen Augen an als bisher. Und er wird dem Autor beipflichten: „Die Gesellschaft braucht den Behinderten, um sich die Frage stellen zu können: Was ist der Mensch? „Einen Augenblick nicht auffallen, einen Augenblick wie die anderen sein: Fisch unter Fischen. Die Heringsschwärme ziehen nach Süden. Ein einziger Fisch, der nach Norden strebt“ (Peter Radkte).
Leseprobe: " ... Wenn ich versuche, eine Antwort darauf zu geben, warum unsere Gesellschaft behinderte Menschen braucht, so handelt es sich beim Objekt meiner Überlegungen um zwei Pole, die mir gleich wichtig sind: Um Menschen, die eine Behinderung aufweisen, und um die Gesellschaft als Ganzes, das heißt die Pluralität einer Gemeinschaft, in welcher das behinderte Individuum nur ein Mosaikstein unter anderen ist, allerdings ein unentbehrlicher, wie ich fest überzeugt bin. Um meine Haltung begreifl ich zu machen, möchte ich zuerst von jenen Erfahrungen und Erlebnissen berichten, die zu meiner heutigen Einstellung beigetragen haben.
Da war zunächst einmal vor vielen Jahren ein Religionslehrer. Durch einen schlimmen Unfall wurde er querschnittgelähmt und war seither – in diesem Sonderfall sei mir ausnahmsweise der nachfolgende Ausdruck erlaubt – an seinen mächtigen Elektrorollstuhl gefesselt … Eines Tages hörte ich diesen Mann einen Vortrag halten, der mir nicht mehr aus dem Kopf gehen sollte. Er führte, vielleicht in überzogener, aber doch überzeugender Weise, seinen Zuhörern vor Augen, dass der geistig behinderte Mensch in Wirklichkeit all jene Tugenden und Qualitäten in sich vereine, die wir beim mehr oder minder nichtbehinderten Zeitgenossen meist vergeblich suchen: Toleranz, Spontaneität, Ungekünsteltheit, Fehlen von Konkurrenzdenken, belassen wir es bei diesen Werten ...
... Ich bin Schriftsteller, Schauspieler, Akademiker, hauptamtlicher Redakteur einer Fernsehsendung und einiges andere mehr. Aber wenn ich irgendwo zitiert werde, wenn ein Artikel über mich in der Presse erscheint, heißt es in der Regel stets »der Behinderte«, »der Schwerbehinderte«, »der Schwerstbehinderte«. Es ist dies ein ganz typisches Phänomen, nicht nur bei mir, sondern bei Menschen mit einer Behinderung allgemein. Neben allen anderen Eigenschaften, und zum Großteil sie überlagernd, steht eben die Behinderung. Sie färbt alle Aussagen, welche über die Person gemacht werden, selbst dort, wo sie von keinerlei Belang wäre. Dem entspricht dann auch die sprachliche Gepflogenheit, das substantivierte »der Behinderte« oder »die Behinderten« zu verwenden statt eine Wendung wie »der behinderte Mensch«, »der behinderte Bürger« oder »Menschen mit einer Behinderung« ...
... Es steht außer Zweifel – und ich muss es hier bewusst krass formulieren – der so genannte Nichtbehinderte betrachtet den behinderten Mitmenschen als eine Art Fehlmuster der Natur. Wie sonst ließe sich das Bemühen erklären, eben diese Natur zu überlisten, indem man gewissermaßen vor dem Produktionsausstoß die defekten Stücke analysiert, sie aussondert und auf diese Weise gar nicht erst in den Handel kommen lässt. Auch deuten sich bereits Möglichkeiten an, bei nachweislich fehlerhafter Konstruktionszeichnung das ganze Modell einzuziehen oder durch Korrekturen des Plans den Ist-Zustand dem Soll-Zustand anzupassen. Man verzeihe mir diese zugegeben despektierliche Ausdrucksweise. Die Form, mit der man, zumindest in Deutschland, Fragen genetischer Beratung, des Schwangerschaftsabbruchs oder der Gentechnologie behandelt, legt jedoch in der Tat den Vergleich mit Massenprodukten nahe. Kinder werden gewissermaßen gegen Bestellschein angefordert und, wenn sie den Erwartungen nicht entsprechen, kommentarlos zurückgeschickt. Wer Ausschussware (sprich: behinderte Nachkommenschaft) entgegen wohlgemeinter Ratschläge der einschlägigen Fachleute behält, ist an seiner Misere selber schuld und soll sehen, wie er mit der Belastung fertig wird ...
... Immer wieder betone ich, dass es meiner Auffassung nach keine eigentlichen Behindertenprobleme gibt. Die Probleme behinderter Menschen sind allgemein menschliche Probleme. Dadurch, dass sich der von Behinderung Betroffene ihnen quasi unausweichlicher als der so genannte Nichtbehinderte stellen muss, werden sie in einer Art Brennglas gebündelt. Prinzipiell gilt dies nun auch für das Menschsein. Ich glaube, die Gesellschaft braucht den Behinderten, um sich die Frage stellen zu können: Was ist der Mensch? Nur hier findet sie einen Ansatz, der nicht verbaut wird durch Nebensächlichkeiten. Je mehr der Suchende seine eigene Position erschüttert sieht, je bereitwilliger er sie sich erschüttern lässt, desto fruchtbarer kann die Analyse werden ... "
Dr. phil. Peter Radtke, geb. 1943. Sohn einer Krankenschwester und eines Schauspielers. Da die Volksschule ihn nicht aufnahm, wurde er privat unterrichtet. Nach einer Dolmetscherausbildung Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg. Germanistik/Romanistik-Studium. Fachgebietsleiter für das Behindertenreferat der Münchner VHS. Geschäftsführer und Chef-Redakteur der Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien. Schriftsteller und Schauspieler (u.a. Münchner Kammerspiele, Burgtheater Wien, Film). Präsident von EUCREA. Radtke ist Träger vieler Kulturpreise sowie des Bundesverdienstkreuzes. Mitglied des Nationalen Ethikrates, seit 2008 im Deutschen Ethikrat. Peter Radtke lebt – seit 2008 im Ruhestand – in München.
1 Kommentar:
Meine Antwort ist da ganz einfach: ich mag sie eben, die behinderten Menschen. Meistens sind es ganz liebe Menschen, einige ziemlich schlau, und bestrebt, das Leben aus vollen Zügen zu geniessen ;-)
Wer hat denn schon, bei allem äusseren Leid und Schmerz, einen so direkten Zugang zu demjenigen, was Freiheit wirklich ist und sein kann?
Klar braucht die Gesellschaft sie, genau wie jeden sonst auch, der so ist. Oder?
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